men, vertraut zu machen; präge sich nun vest ein, dass die befremdende Gestalt, worin die metaphysischen Pro- bleme Anfangs erscheinen, nichts anderes ist als ein psychologisches Phänomen, welches aus psychologischen Gründen erklärbar seyn muss, die wir im zweyten Theile dieses Buchs aufsuchen wollen; die aber Niemand finden kann, wenn er die Knoten ungeduldig zerhauen will, die er höchst behutsam durch unbefangenes Nachdenken auf- lösen sollte. -- Dass man der leichtern Uebersicht wegen mein Lehrbuch zur Psychologie benutzen könne, brauche ich kaum zu bemerken. Aber sehr dringend muss ich den Leser an die Fragen erinnern: ob er mit seiner prak- tischen Philosophie im Reinen sey? und ob er die mei- nige kenne? Das erste ist an sich nothwendig; das zweyte fordere ich, so gewiss ich nicht will misverstanden seyn. Wessen praktische Philosophie noch schwankt: dessen Gemüth kann bey speculativen Untersuchungen nicht in Ruhe seyn; am wenigsten bey solchen, die den menschlichen Geist betreffen; ohne Gleichmuth aber ge- lingt keine Speculation, sondern sie erzeugt Wahn und Trug. Wer meine praktische Philosophie nicht kennt, der begreift nicht was ich will, und muthet mir an, Dinge zu wollen, die ich verwerfe. Ein Beyspiel hievon: ich will keine angebornen Rechte; nicht bloss, weil ich weiss, dass alle angebornen Formen psychologisch unmöglich sind, sondern auch, weil ich weiss, dass, wenn es der- gleichen Rechte gäbe, sie Streit, und hiemit Unrecht er- zeugen würden. Ein anderes Beyspiel: ich will kein ur- sprünglich gesetzgebendes moralisches Gefühl, und eben so wenig einen kategorischen Imperativ, nicht bloss, weil auch dieses angeborne Formen seyn würden, sondern weil ich das moralische Gefühl, sammt der aus ihm ent- stehenden Bereitwilligkeit zum moralischen Gehorsam, ab- leiten gelernt habe als Gesammtwirkung aus den verschie- denen praktischen Ideen, die wiederum durch eben so viele verschiedene ästhetische Urtheile erzeugt werden. Wenn
men, vertraut zu machen; präge sich nun vest ein, daſs die befremdende Gestalt, worin die metaphysischen Pro- bleme Anfangs erscheinen, nichts anderes ist als ein psychologisches Phänomen, welches aus psychologischen Gründen erklärbar seyn muſs, die wir im zweyten Theile dieses Buchs aufsuchen wollen; die aber Niemand finden kann, wenn er die Knoten ungeduldig zerhauen will, die er höchst behutsam durch unbefangenes Nachdenken auf- lösen sollte. — Daſs man der leichtern Uebersicht wegen mein Lehrbuch zur Psychologie benutzen könne, brauche ich kaum zu bemerken. Aber sehr dringend muſs ich den Leser an die Fragen erinnern: ob er mit seiner prak- tischen Philosophie im Reinen sey? und ob er die mei- nige kenne? Das erste ist an sich nothwendig; das zweyte fordere ich, so gewiſs ich nicht will misverstanden seyn. Wessen praktische Philosophie noch schwankt: dessen Gemüth kann bey speculativen Untersuchungen nicht in Ruhe seyn; am wenigsten bey solchen, die den menschlichen Geist betreffen; ohne Gleichmuth aber ge- lingt keine Speculation, sondern sie erzeugt Wahn und Trug. Wer meine praktische Philosophie nicht kennt, der begreift nicht was ich will, und muthet mir an, Dinge zu wollen, die ich verwerfe. Ein Beyspiel hievon: ich will keine angebornen Rechte; nicht bloſs, weil ich weiſs, daſs alle angebornen Formen psychologisch unmöglich sind, sondern auch, weil ich weiſs, daſs, wenn es der- gleichen Rechte gäbe, sie Streit, und hiemit Unrecht er- zeugen würden. Ein anderes Beyspiel: ich will kein ur- sprünglich gesetzgebendes moralisches Gefühl, und eben so wenig einen kategorischen Imperativ, nicht bloſs, weil auch dieses angeborne Formen seyn würden, sondern weil ich das moralische Gefühl, sammt der aus ihm ent- stehenden Bereitwilligkeit zum moralischen Gehorsam, ab- leiten gelernt habe als Gesammtwirkung aus den verschie- denen praktischen Ideen, die wiederum durch eben so viele verschiedene ästhetische Urtheile erzeugt werden. Wenn
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men, vertraut zu machen; präge sich nun vest ein, daſs
die befremdende Gestalt, worin die metaphysischen Pro-
bleme Anfangs erscheinen, nichts anderes ist als ein
psychologisches Phänomen, welches aus psychologischen
Gründen erklärbar seyn muſs, die wir im zweyten Theile
dieses Buchs aufsuchen wollen; die aber Niemand finden
kann, wenn er die Knoten ungeduldig zerhauen will, die
er höchst behutsam durch unbefangenes Nachdenken auf-
lösen sollte. — Daſs man der leichtern Uebersicht wegen
mein Lehrbuch zur Psychologie benutzen könne, brauche
ich kaum zu bemerken. Aber sehr dringend muſs ich
den Leser an die Fragen erinnern: ob er mit seiner prak-
tischen Philosophie im Reinen sey? und ob er die mei-
nige kenne? Das erste ist an sich nothwendig; das
zweyte fordere ich, so gewiſs ich nicht will misverstanden
seyn. Wessen praktische Philosophie noch schwankt:
dessen Gemüth kann bey speculativen Untersuchungen
nicht in Ruhe seyn; am wenigsten bey solchen, die den
menschlichen Geist betreffen; ohne Gleichmuth aber ge-
lingt keine Speculation, sondern sie erzeugt Wahn und
Trug. Wer meine praktische Philosophie nicht kennt,
der begreift nicht was ich will, und muthet mir an, Dinge
zu wollen, die ich verwerfe. Ein Beyspiel hievon: ich
will keine angebornen Rechte; nicht bloſs, weil ich weiſs,
daſs alle angebornen Formen psychologisch unmöglich
sind, sondern auch, weil ich weiſs, daſs, wenn es der-
gleichen Rechte gäbe, sie Streit, und hiemit Unrecht er-
zeugen würden. Ein anderes Beyspiel: ich will kein ur-
sprünglich gesetzgebendes moralisches Gefühl, und eben
so wenig einen kategorischen Imperativ, nicht bloſs, weil
auch dieses angeborne Formen seyn würden, sondern
weil ich das moralische Gefühl, sammt der aus ihm ent-
stehenden Bereitwilligkeit zum moralischen Gehorsam, ab-
leiten gelernt habe als Gesammtwirkung aus den verschie-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/98>, abgerufen am 09.11.2024.
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