Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

Gefühle nicht lange aus, weil jede endliche Kraft, je
stärker sie angespannt wird, um so eher wieder nachlas-
sen und erschöpft werden muss.

Wäre es mir um eine Instanz zu thun: so würde
ich verschweigen, dass meine Metaphysik alle räumlichen,
anziehenden und abstossenden Kräfte verwirft; und als-
dann fragen, ob denn die anziehende Kraft der Sonne
gegen die Erde, oder die anziehende Kraft des Sauer-
stoffs gegen den Wasserstoff, etwan unendliche Kräfte,
und darum ausgenommen sind von der Regel, dass an-
gespannte Kräfte nachlassen müssen? Jetzt aber will ich
lieber fragen, was für ein Begriff hinter dem Worte
Anspannung verborgen sey, -- welches bekanntlich
zunächst nur auf die Körperwelt, auf vergrösserte räum-
liche Ausdehnung passt; und dessen Anwendung auf das
Gefühlvermögen zwar vortrefflich ist im rhetorischen Ge-
brauche, aber sehr mislich an den Orten, wo es der
empirischen Psychologie nach ihrer Laune beliebt, nun
einmal nicht bloss empirisch seyn, sondern auch etwas
erklären zu wollen. Ich selbst habe mich oben des
Ausdrucks Spannung auch für geistige Kräfte bedient;
aber diesen Ausdruck schon im §. 42. genau erklärt,
woraus unter andern hervorgeht, dass die Spannung der
Vorstellungen ihre Kraft im geringsten nicht vermindert,
erschöpft, oder abnutzt, sondern stets auf gleiche Weise
die Bedingung ihrer Wirksamkeit ausmacht. Und so
gebührt sichs für Alles, was mit Recht den Namen der
Kraft trägt.

§. 105.

Wir können nunmehr die Analyse der Gefühle un-
ternehmen, so weit sie für diesen Abschnitt gehört. Da-
bey muss aber vorausgesetzt werden, dass der Leser sich
in die Beobachtung seiner selbst versenke; das Fühlen
ist seine eigne Sache; und nur zur Reflexion darüber,
zur Sonderung des sehr verwickelten Mannigfaltigen, wel-
ches er finden wird, kann die Theorie ihn leiten.

Man erinnere sich zuerst der Bemerkung, welche

Gefühle nicht lange aus, weil jede endliche Kraft, je
stärker sie angespannt wird, um so eher wieder nachlas-
sen und erschöpft werden muſs.

Wäre es mir um eine Instanz zu thun: so würde
ich verschweigen, daſs meine Metaphysik alle räumlichen,
anziehenden und abstoſsenden Kräfte verwirft; und als-
dann fragen, ob denn die anziehende Kraft der Sonne
gegen die Erde, oder die anziehende Kraft des Sauer-
stoffs gegen den Wasserstoff, etwan unendliche Kräfte,
und darum ausgenommen sind von der Regel, daſs an-
gespannte Kräfte nachlassen müssen? Jetzt aber will ich
lieber fragen, was für ein Begriff hinter dem Worte
Anspannung verborgen sey, — welches bekanntlich
zunächst nur auf die Körperwelt, auf vergröſserte räum-
liche Ausdehnung paſst; und dessen Anwendung auf das
Gefühlvermögen zwar vortrefflich ist im rhetorischen Ge-
brauche, aber sehr mislich an den Orten, wo es der
empirischen Psychologie nach ihrer Laune beliebt, nun
einmal nicht bloſs empirisch seyn, sondern auch etwas
erklären zu wollen. Ich selbst habe mich oben des
Ausdrucks Spannung auch für geistige Kräfte bedient;
aber diesen Ausdruck schon im §. 42. genau erklärt,
woraus unter andern hervorgeht, daſs die Spannung der
Vorstellungen ihre Kraft im geringsten nicht vermindert,
erschöpft, oder abnutzt, sondern stets auf gleiche Weise
die Bedingung ihrer Wirksamkeit ausmacht. Und so
gebührt sichs für Alles, was mit Recht den Namen der
Kraft trägt.

§. 105.

Wir können nunmehr die Analyse der Gefühle un-
ternehmen, so weit sie für diesen Abschnitt gehört. Da-
bey muſs aber vorausgesetzt werden, daſs der Leser sich
in die Beobachtung seiner selbst versenke; das Fühlen
ist seine eigne Sache; und nur zur Reflexion darüber,
zur Sonderung des sehr verwickelten Mannigfaltigen, wel-
ches er finden wird, kann die Theorie ihn leiten.

Man erinnere sich zuerst der Bemerkung, welche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0113" n="78"/>
Gefühle nicht lange aus, weil jede <hi rendition="#g">endliche</hi> Kraft, je<lb/>
stärker sie angespannt wird, um so eher wieder nachlas-<lb/>
sen und erschöpft werden mu&#x017F;s.</p><lb/>
              <p>Wäre es mir um eine Instanz zu thun: so würde<lb/>
ich verschweigen, da&#x017F;s meine Metaphysik alle räumlichen,<lb/>
anziehenden und absto&#x017F;senden Kräfte verwirft; und als-<lb/>
dann fragen, ob denn die anziehende Kraft der Sonne<lb/>
gegen die Erde, oder die anziehende Kraft des Sauer-<lb/>
stoffs gegen den Wasserstoff, etwan <hi rendition="#g">unendliche</hi> Kräfte,<lb/>
und <hi rendition="#g">darum</hi> ausgenommen sind von der Regel, da&#x017F;s an-<lb/>
gespannte Kräfte nachlassen müssen? Jetzt aber will ich<lb/>
lieber fragen, was für ein Begriff hinter dem Worte<lb/><hi rendition="#g">Anspannung</hi> verborgen sey, &#x2014; welches bekanntlich<lb/>
zunächst nur auf die Körperwelt, auf vergrö&#x017F;serte räum-<lb/>
liche Ausdehnung pa&#x017F;st; und dessen Anwendung auf das<lb/>
Gefühlvermögen zwar vortrefflich ist im rhetorischen Ge-<lb/>
brauche, aber sehr mislich an den Orten, wo es der<lb/>
empirischen Psychologie nach <hi rendition="#g">ihrer Laune</hi> beliebt, nun<lb/>
einmal <hi rendition="#g">nicht blo&#x017F;s</hi> empirisch seyn, sondern auch etwas<lb/><hi rendition="#g">erklären</hi> zu wollen. Ich selbst habe mich oben des<lb/>
Ausdrucks <hi rendition="#g">Spannung</hi> auch für geistige Kräfte bedient;<lb/>
aber diesen Ausdruck schon im §. 42. genau erklärt,<lb/>
woraus unter andern hervorgeht, da&#x017F;s die Spannung der<lb/>
Vorstellungen ihre Kraft im geringsten nicht vermindert,<lb/>
erschöpft, oder abnutzt, sondern stets auf gleiche Weise<lb/>
die Bedingung ihrer Wirksamkeit ausmacht. Und so<lb/>
gebührt sichs für Alles, was mit Recht den Namen der<lb/>
Kraft trägt.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 105.</head><lb/>
              <p>Wir können nunmehr die Analyse der Gefühle un-<lb/>
ternehmen, so weit sie für diesen Abschnitt gehört. Da-<lb/>
bey mu&#x017F;s aber vorausgesetzt werden, da&#x017F;s der Leser sich<lb/>
in die Beobachtung seiner selbst versenke; das Fühlen<lb/>
ist seine eigne Sache; und nur zur Reflexion darüber,<lb/>
zur Sonderung des sehr verwickelten Mannigfaltigen, wel-<lb/>
ches er finden wird, kann die Theorie ihn leiten.</p><lb/>
              <p>Man erinnere sich zuerst der Bemerkung, welche<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[78/0113] Gefühle nicht lange aus, weil jede endliche Kraft, je stärker sie angespannt wird, um so eher wieder nachlas- sen und erschöpft werden muſs. Wäre es mir um eine Instanz zu thun: so würde ich verschweigen, daſs meine Metaphysik alle räumlichen, anziehenden und abstoſsenden Kräfte verwirft; und als- dann fragen, ob denn die anziehende Kraft der Sonne gegen die Erde, oder die anziehende Kraft des Sauer- stoffs gegen den Wasserstoff, etwan unendliche Kräfte, und darum ausgenommen sind von der Regel, daſs an- gespannte Kräfte nachlassen müssen? Jetzt aber will ich lieber fragen, was für ein Begriff hinter dem Worte Anspannung verborgen sey, — welches bekanntlich zunächst nur auf die Körperwelt, auf vergröſserte räum- liche Ausdehnung paſst; und dessen Anwendung auf das Gefühlvermögen zwar vortrefflich ist im rhetorischen Ge- brauche, aber sehr mislich an den Orten, wo es der empirischen Psychologie nach ihrer Laune beliebt, nun einmal nicht bloſs empirisch seyn, sondern auch etwas erklären zu wollen. Ich selbst habe mich oben des Ausdrucks Spannung auch für geistige Kräfte bedient; aber diesen Ausdruck schon im §. 42. genau erklärt, woraus unter andern hervorgeht, daſs die Spannung der Vorstellungen ihre Kraft im geringsten nicht vermindert, erschöpft, oder abnutzt, sondern stets auf gleiche Weise die Bedingung ihrer Wirksamkeit ausmacht. Und so gebührt sichs für Alles, was mit Recht den Namen der Kraft trägt. §. 105. Wir können nunmehr die Analyse der Gefühle un- ternehmen, so weit sie für diesen Abschnitt gehört. Da- bey muſs aber vorausgesetzt werden, daſs der Leser sich in die Beobachtung seiner selbst versenke; das Fühlen ist seine eigne Sache; und nur zur Reflexion darüber, zur Sonderung des sehr verwickelten Mannigfaltigen, wel- ches er finden wird, kann die Theorie ihn leiten. Man erinnere sich zuerst der Bemerkung, welche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/113
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/113>, abgerufen am 21.11.2024.