schon in der Einleitung, den vorläufigen Analysen des Verstandes und der Vernunft voranging; dass man nicht anfangen muss bey dem Ersten und Frühesten, welches in unserer Kindheit entstand, als wir noch nichts in uns beobachten konnten; sondern bey dem Neuesten, eben jetzt im Werden Begriffenen, welches eben darum, weil es gegenwärtig geschieht, sich auch gegenwärtig beobach- ten lässt. Dies muss erst gleichsam oben abgehoben werden, ehe man das tiefer Liegende, gleichsam Ver- schüttete, heraus hohlen kann, welches man verunstalten würde, wenn man es voreilig ergreifen wollte.
A.Nun findet sich jeder Mensch an irgend einem Platze in der Gesellschaft. Er gehört ent- weder zu den Dienenden, oder zu den gemeinen Freyen, oder zu den Angesehenen, oder er steht an der Spitze; (man vergleiche die Sätze über die Statik des Staats in der Einleitung;) welche Bestimmungen mancher Modifi- cationen fähig sind, die Jeder für sich selbst aufsuchen kann. Hievon hängt der äussere Umriss seines Gefühls- zustandes ab. Er ist nämlich bis auf einen gewissen Grad eingetaucht in die allgemeine gesellschaftliche Hem- mung. Gewisse Hoffnungen sind ihm abgeschnitten, und Aussichten versperrt; hiedurch ist die Möglichkeit solcher Gefühle, wie sie aus den ganz gehemmten, demnach für ihn so gut als nicht vorhandenen Vorstellungen, hätten entstehen können, aufgehoben. Der ganz Arme kennt nicht die Gefühle des Reichen als solchen; er ist frey von den Sorgen der Güterverwaltung; der Unwissende weiss nichts vom literarischen Ehrgeize; dem Bauern kann nicht die Empfindlichkeit des Angesehenen für die Kränkungen der Ehre beywohnen. Es giebt zwar Ein- zelne, die sich in höhere Stände hinein phantasiren; allein die grossen Dichter wären nicht so ausserordent- lich selten, wie sie wirklich sind, wenn jenes Phanta- siren, welches die gesellschaftliche Hemmung abzuwer- fen scheint, in den wirklichen Zustand, in die wah- ren Gefühle der Höheren einzudringen fähig wäre,
schon in der Einleitung, den vorläufigen Analysen des Verstandes und der Vernunft voranging; daſs man nicht anfangen muſs bey dem Ersten und Frühesten, welches in unserer Kindheit entstand, als wir noch nichts in uns beobachten konnten; sondern bey dem Neuesten, eben jetzt im Werden Begriffenen, welches eben darum, weil es gegenwärtig geschieht, sich auch gegenwärtig beobach- ten läſst. Dies muſs erst gleichsam oben abgehoben werden, ehe man das tiefer Liegende, gleichsam Ver- schüttete, heraus hohlen kann, welches man verunstalten würde, wenn man es voreilig ergreifen wollte.
A.Nun findet sich jeder Mensch an irgend einem Platze in der Gesellschaft. Er gehört ent- weder zu den Dienenden, oder zu den gemeinen Freyen, oder zu den Angesehenen, oder er steht an der Spitze; (man vergleiche die Sätze über die Statik des Staats in der Einleitung;) welche Bestimmungen mancher Modifi- cationen fähig sind, die Jeder für sich selbst aufsuchen kann. Hievon hängt der äuſsere Umriſs seines Gefühls- zustandes ab. Er ist nämlich bis auf einen gewissen Grad eingetaucht in die allgemeine gesellschaftliche Hem- mung. Gewisse Hoffnungen sind ihm abgeschnitten, und Aussichten versperrt; hiedurch ist die Möglichkeit solcher Gefühle, wie sie aus den ganz gehemmten, demnach für ihn so gut als nicht vorhandenen Vorstellungen, hätten entstehen können, aufgehoben. Der ganz Arme kennt nicht die Gefühle des Reichen als solchen; er ist frey von den Sorgen der Güterverwaltung; der Unwissende weiſs nichts vom literarischen Ehrgeize; dem Bauern kann nicht die Empfindlichkeit des Angesehenen für die Kränkungen der Ehre beywohnen. Es giebt zwar Ein- zelne, die sich in höhere Stände hinein phantasiren; allein die groſsen Dichter wären nicht so auſserordent- lich selten, wie sie wirklich sind, wenn jenes Phanta- siren, welches die gesellschaftliche Hemmung abzuwer- fen scheint, in den wirklichen Zustand, in die wah- ren Gefühle der Höheren einzudringen fähig wäre,
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schon in der Einleitung, den vorläufigen Analysen des
Verstandes und der Vernunft voranging; daſs man nicht
anfangen muſs bey dem Ersten und Frühesten, welches
in unserer Kindheit entstand, als wir noch nichts in uns
beobachten konnten; sondern bey dem Neuesten, eben
jetzt im Werden Begriffenen, welches eben darum, weil
es gegenwärtig geschieht, sich auch gegenwärtig beobach-
ten läſst. Dies muſs erst gleichsam oben abgehoben
werden, ehe man das tiefer Liegende, gleichsam Ver-
schüttete, heraus hohlen kann, welches man verunstalten
würde, wenn man es voreilig ergreifen wollte.
A. Nun findet sich jeder Mensch an irgend
einem Platze in der Gesellschaft. Er gehört ent-
weder zu den Dienenden, oder zu den gemeinen Freyen,
oder zu den Angesehenen, oder er steht an der Spitze;
(man vergleiche die Sätze über die Statik des Staats in
der Einleitung;) welche Bestimmungen mancher Modifi-
cationen fähig sind, die Jeder für sich selbst aufsuchen
kann. Hievon hängt der äuſsere Umriſs seines Gefühls-
zustandes ab. Er ist nämlich bis auf einen gewissen
Grad eingetaucht in die allgemeine gesellschaftliche Hem-
mung. Gewisse Hoffnungen sind ihm abgeschnitten, und
Aussichten versperrt; hiedurch ist die Möglichkeit solcher
Gefühle, wie sie aus den ganz gehemmten, demnach für
ihn so gut als nicht vorhandenen Vorstellungen, hätten
entstehen können, aufgehoben. Der ganz Arme kennt
nicht die Gefühle des Reichen als solchen; er ist frey
von den Sorgen der Güterverwaltung; der Unwissende
weiſs nichts vom literarischen Ehrgeize; dem Bauern
kann nicht die Empfindlichkeit des Angesehenen für die
Kränkungen der Ehre beywohnen. Es giebt zwar Ein-
zelne, die sich in höhere Stände hinein phantasiren;
allein die groſsen Dichter wären nicht so auſserordent-
lich selten, wie sie wirklich sind, wenn jenes Phanta-
siren, welches die gesellschaftliche Hemmung abzuwer-
fen scheint, in den wirklichen Zustand, in die wah-
ren Gefühle der Höheren einzudringen fähig wäre,
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/114>, abgerufen am 21.11.2024.
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