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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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irgend einer Art hätte widerlegen können; nämlich als
ob die ästhetische Evidenz durch psychologische Erklä-
rung derselben irgend etwas an Sicherheit und Stärke
gewinnen könnte; obgleich man längst weiss, dass ein
Gedicht, wenn es nur verständlich ist, sich von Analysen
und Commentaren keinesweges eine grössere Wirkung
zu versprechen hat; und dass Aufklärungen über die Ent-
stehung und Verfertigung der Kunstwerke zwar wohl dem
Künstler, aber nicht dem Werke, eine grössere Bewun-
derung schaffen können. Und wahrlich! die praktische
Philosophie wird, in Ansehung ihrer ersten Gründe,
der Psychologie niemals den geringsten positiven Zusatz
an Kraft und Werth verdanken, aber sie ist den neu-
gierigen Blicken der letztern einmal ausgesetzt; sie leidet
überdies von hineingetragenen Irrthümern falscher Psy-
chologie, die nur durch wahre Psychologie können fort-
geschafft werden. Daher will ich es nicht vermeiden,
Denjenigen, welche in diesem Puncte mehr Neugierde
haben als ich, wenigstens meine Meinung zu sagen, wie
sie ihre Untersuchung anzustellen haben, wenn sie sich
nicht in Täuschungen über die wichtigsten Gegenstände
verwickeln wollen.

Zuerst haben sie zu verhüten, dass sie hier nicht die
Frage von der wahren Natur des Willens einmengen.
Diese müssen sie nothwendig ganz unbestimmt lassen;
denn, wie Kant sehr richtig bemerkt hat, die Sittenlehre
muss nicht bloss für Menschen gelten; sie muss uns so-
gar in unserer Gottesverehrung Licht geben; der gött-
liche Wille ist aber sicherlich kein Gegenstand einer
menschlichen Psychologie.

Auch liegt in den ersten Grundgedanken der prak-
tischen Philosophie nicht der mindeste Anspruch, den
wirklichen Willen zu lenken, und auf ihn zu wirken;
welches, wenn es Statt fände, freylich die Forderung
herbeyführen könnte, man müsse den Willen, um über
ihn Gewalt zu erlangen, erst seiner wahren Beschaffen-
heit nach kennen. Allein die Grundgedanken der prak-

tischen

irgend einer Art hätte widerlegen können; nämlich als
ob die ästhetische Evidenz durch psychologische Erklä-
rung derselben irgend etwas an Sicherheit und Stärke
gewinnen könnte; obgleich man längst weiſs, daſs ein
Gedicht, wenn es nur verständlich ist, sich von Analysen
und Commentaren keinesweges eine gröſsere Wirkung
zu versprechen hat; und daſs Aufklärungen über die Ent-
stehung und Verfertigung der Kunstwerke zwar wohl dem
Künstler, aber nicht dem Werke, eine gröſsere Bewun-
derung schaffen können. Und wahrlich! die praktische
Philosophie wird, in Ansehung ihrer ersten Gründe,
der Psychologie niemals den geringsten positiven Zusatz
an Kraft und Werth verdanken, aber sie ist den neu-
gierigen Blicken der letztern einmal ausgesetzt; sie leidet
überdies von hineingetragenen Irrthümern falscher Psy-
chologie, die nur durch wahre Psychologie können fort-
geschafft werden. Daher will ich es nicht vermeiden,
Denjenigen, welche in diesem Puncte mehr Neugierde
haben als ich, wenigstens meine Meinung zu sagen, wie
sie ihre Untersuchung anzustellen haben, wenn sie sich
nicht in Täuschungen über die wichtigsten Gegenstände
verwickeln wollen.

Zuerst haben sie zu verhüten, daſs sie hier nicht die
Frage von der wahren Natur des Willens einmengen.
Diese müssen sie nothwendig ganz unbestimmt lassen;
denn, wie Kant sehr richtig bemerkt hat, die Sittenlehre
muſs nicht bloſs für Menschen gelten; sie muſs uns so-
gar in unserer Gottesverehrung Licht geben; der gött-
liche Wille ist aber sicherlich kein Gegenstand einer
menschlichen Psychologie.

Auch liegt in den ersten Grundgedanken der prak-
tischen Philosophie nicht der mindeste Anspruch, den
wirklichen Willen zu lenken, und auf ihn zu wirken;
welches, wenn es Statt fände, freylich die Forderung
herbeyführen könnte, man müsse den Willen, um über
ihn Gewalt zu erlangen, erst seiner wahren Beschaffen-
heit nach kennen. Allein die Grundgedanken der prak-

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[96/0131] irgend einer Art hätte widerlegen können; nämlich als ob die ästhetische Evidenz durch psychologische Erklä- rung derselben irgend etwas an Sicherheit und Stärke gewinnen könnte; obgleich man längst weiſs, daſs ein Gedicht, wenn es nur verständlich ist, sich von Analysen und Commentaren keinesweges eine gröſsere Wirkung zu versprechen hat; und daſs Aufklärungen über die Ent- stehung und Verfertigung der Kunstwerke zwar wohl dem Künstler, aber nicht dem Werke, eine gröſsere Bewun- derung schaffen können. Und wahrlich! die praktische Philosophie wird, in Ansehung ihrer ersten Gründe, der Psychologie niemals den geringsten positiven Zusatz an Kraft und Werth verdanken, aber sie ist den neu- gierigen Blicken der letztern einmal ausgesetzt; sie leidet überdies von hineingetragenen Irrthümern falscher Psy- chologie, die nur durch wahre Psychologie können fort- geschafft werden. Daher will ich es nicht vermeiden, Denjenigen, welche in diesem Puncte mehr Neugierde haben als ich, wenigstens meine Meinung zu sagen, wie sie ihre Untersuchung anzustellen haben, wenn sie sich nicht in Täuschungen über die wichtigsten Gegenstände verwickeln wollen. Zuerst haben sie zu verhüten, daſs sie hier nicht die Frage von der wahren Natur des Willens einmengen. Diese müssen sie nothwendig ganz unbestimmt lassen; denn, wie Kant sehr richtig bemerkt hat, die Sittenlehre muſs nicht bloſs für Menschen gelten; sie muſs uns so- gar in unserer Gottesverehrung Licht geben; der gött- liche Wille ist aber sicherlich kein Gegenstand einer menschlichen Psychologie. Auch liegt in den ersten Grundgedanken der prak- tischen Philosophie nicht der mindeste Anspruch, den wirklichen Willen zu lenken, und auf ihn zu wirken; welches, wenn es Statt fände, freylich die Forderung herbeyführen könnte, man müsse den Willen, um über ihn Gewalt zu erlangen, erst seiner wahren Beschaffen- heit nach kennen. Allein die Grundgedanken der prak- tischen

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/131>, abgerufen am 21.11.2024.