Gesellen der aufgeregten Leidenschaften, so viele Frey- heiten zugestanden werden!
§. 108.
Nachdem wir die Affecten von den Gefühlen unter- schieden, die Leidenschaften vielmehr für Dispositionen zu Begierden als für stärkere Acte des Begehrens er- kannt haben: bleibt in dieser Gegend der Untersuchung noch Einiges theils nachzuhohlen, theils zu ergänzen übrig, wodurch die vorigen Paragraphen, (besonders §. 105.) nicht noch mehr sollten angeschwellt werden. Zuerst muss ich von dem Cirkel sprechen, in welchem bey manchen Schriftstellern Gefühl und Begierde sich zu drehen scheinen.
Fragen wir hierüber Herrn Maass, so antwortet er uns in seinem Werke über die Gefühle (Th. I. S. 39.) "Ein Gefühl ist angenehm, so fern es um sein selbst "willen begehrt, unangenehm, so fern es um sein selbst "willen verabscheuet wird." Aber in dem Werke über die Leidenschaften (Th. I. S. 2.) lernen wir, man be- gehre, was als gut, man verabscheue, was als böse vorgestellt werde; und weiterhin, (S. 7.) die Sinnlichkeit stelle das als gut vor, wovon sie angenehm afficirt werde, das Gegentheil als böse. So sind wir im Cirkel herumgeführt, das Angenehme ist das Begehrte, das Begehrte ist das Angenehme. Wobey wir billig fra- gen müssen, ob denn dieses oder jenes ursprünglich be- stimmt sey? Ob das Begehrungsvermögen zuerst begehre, und sein Begehrtes nun angenehm empfunden werde; oder ob das Gefühl zuerst das Angenehme vom Gleich- gültigen und vom Unangenehmen unterscheide, und als- dann sich die Begehrung zu dem Herausgefühlten hin- lenke?
Es ist offenbar, dass eben die Schwierigkeit dieser Frage den obigen Cirkel veranlasst hat.
Carus, (in seiner Psychologie S. 399 u. s. w.) nachdem er mehrere irrige Meinungen geprüft hat, er- klärt sich also: nur das Gefühl werde angenehm, was
Gesellen der aufgeregten Leidenschaften, so viele Frey- heiten zugestanden werden!
§. 108.
Nachdem wir die Affecten von den Gefühlen unter- schieden, die Leidenschaften vielmehr für Dispositionen zu Begierden als für stärkere Acte des Begehrens er- kannt haben: bleibt in dieser Gegend der Untersuchung noch Einiges theils nachzuhohlen, theils zu ergänzen übrig, wodurch die vorigen Paragraphen, (besonders §. 105.) nicht noch mehr sollten angeschwellt werden. Zuerst muſs ich von dem Cirkel sprechen, in welchem bey manchen Schriftstellern Gefühl und Begierde sich zu drehen scheinen.
Fragen wir hierüber Herrn Maaſs, so antwortet er uns in seinem Werke über die Gefühle (Th. I. S. 39.) „Ein Gefühl ist angenehm, so fern es um sein selbst „willen begehrt, unangenehm, so fern es um sein selbst „willen verabscheuet wird.“ Aber in dem Werke über die Leidenschaften (Th. I. S. 2.) lernen wir, man be- gehre, was als gut, man verabscheue, was als böse vorgestellt werde; und weiterhin, (S. 7.) die Sinnlichkeit stelle das als gut vor, wovon sie angenehm afficirt werde, das Gegentheil als böse. So sind wir im Cirkel herumgeführt, das Angenehme ist das Begehrte, das Begehrte ist das Angenehme. Wobey wir billig fra- gen müssen, ob denn dieses oder jenes ursprünglich be- stimmt sey? Ob das Begehrungsvermögen zuerst begehre, und sein Begehrtes nun angenehm empfunden werde; oder ob das Gefühl zuerst das Angenehme vom Gleich- gültigen und vom Unangenehmen unterscheide, und als- dann sich die Begehrung zu dem Herausgefühlten hin- lenke?
Es ist offenbar, daſs eben die Schwierigkeit dieser Frage den obigen Cirkel veranlaſst hat.
Carus, (in seiner Psychologie S. 399 u. s. w.) nachdem er mehrere irrige Meinungen geprüft hat, er- klärt sich also: nur das Gefühl werde angenehm, was
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Gesellen der aufgeregten Leidenschaften, so viele Frey-
heiten zugestanden werden!
§. 108.
Nachdem wir die Affecten von den Gefühlen unter-
schieden, die Leidenschaften vielmehr für Dispositionen
zu Begierden als für stärkere Acte des Begehrens er-
kannt haben: bleibt in dieser Gegend der Untersuchung
noch Einiges theils nachzuhohlen, theils zu ergänzen
übrig, wodurch die vorigen Paragraphen, (besonders
§. 105.) nicht noch mehr sollten angeschwellt werden.
Zuerst muſs ich von dem Cirkel sprechen, in welchem
bey manchen Schriftstellern Gefühl und Begierde sich zu
drehen scheinen.
Fragen wir hierüber Herrn Maaſs, so antwortet er
uns in seinem Werke über die Gefühle (Th. I. S. 39.)
„Ein Gefühl ist angenehm, so fern es um sein selbst
„willen begehrt, unangenehm, so fern es um sein selbst
„willen verabscheuet wird.“ Aber in dem Werke über
die Leidenschaften (Th. I. S. 2.) lernen wir, man be-
gehre, was als gut, man verabscheue, was als böse
vorgestellt werde; und weiterhin, (S. 7.) die Sinnlichkeit
stelle das als gut vor, wovon sie angenehm afficirt
werde, das Gegentheil als böse. So sind wir im
Cirkel herumgeführt, das Angenehme ist das Begehrte,
das Begehrte ist das Angenehme. Wobey wir billig fra-
gen müssen, ob denn dieses oder jenes ursprünglich be-
stimmt sey? Ob das Begehrungsvermögen zuerst begehre,
und sein Begehrtes nun angenehm empfunden werde;
oder ob das Gefühl zuerst das Angenehme vom Gleich-
gültigen und vom Unangenehmen unterscheide, und als-
dann sich die Begehrung zu dem Herausgefühlten hin-
lenke?
Es ist offenbar, daſs eben die Schwierigkeit dieser
Frage den obigen Cirkel veranlaſst hat.
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/144>, abgerufen am 21.11.2024.
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