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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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unter wechselnden Umständen doch immer dasselbe Lei-
den erneuern. Hat sich nun früherhin die gesunde Ue-
berlegung ausgebildet: so ist so lange noch Hülfe gegen
die Leidenschaft, wie lange sie nicht durch ihre Regun-
gen bis zum eigentlichen Affecte aufsteigt, in welchem,
weil die Vorstellungen aus dem Gleichgewichte kamen,
auch der Leib -- die Nerven und das Blut -- in eine
Aufregung gerathen, die nicht sogleich vorübergeht, son-
dern gegen den Lauf der Vorstellungen hemmend zu-
rückwirkt. Kommt es erst dahin: so gleicht der Anfall
der Leidenschaft mehr oder weniger dem Traum und
dem Wahnsinn; das Uebel lässt zwar nach, aber nur
um künftig desto furchtbarer wiederzukehren. Der Mensch
bedarf alsdann Hülfe von aussen: und nur zu oft über-
liefert ihn das Bewusstseyn dieses Bedürfnisses solchen
Seelenärzten, die das Schlimme noch schlimmer machen.

Man hat unter mancherley nähern Bestimmungen
oftmals, nicht bloss gerathen, sondern versucht, eine Lei-
denschaft durch die andre zu bezwingen. Es giebt ja so-
gar Lobredner der Leidenschaften; es finden sich Leute,
die zum Beyspiel einer Nation, welche bis dahin von
politischen Leidenschaften wenig wusste, gern dergleichen
einimpfen möchten! -- --

Dass auch gute Aerzte zuweilen durch ein künstli-
ches Geschwür, -- welches sie wieder heilen können,
und das in ihrer Gewalt bleibt -- dringende Gefahren
vorläufig abwenden, ist bekannt. Wer sich aber ein-
bildet, man könne aus entgegengesetzten Leidenschaften
die moralische Gesundheit erzeugen, der gleicht den Po-
litikern, welche im Ernste zwey Mächte auf Einem Bo-
den begehren. Nicht Ruhe, sondern völlige Zerrüttung
ist davon die nothwendige Folge.

Weit besser ist ein anderes Mittel, welches unsre
Moralisten seit Kant zu sehr verschmäht haben. Es ist
eine verständige Glückseligkeitslehre, welche das Be-
wusstseyn des wahrhaft Angenehmen und Erfreulichen
zurückführt. Ein Mensch, der ein anhaltend genussrei-

unter wechselnden Umständen doch immer dasselbe Lei-
den erneuern. Hat sich nun früherhin die gesunde Ue-
berlegung ausgebildet: so ist so lange noch Hülfe gegen
die Leidenschaft, wie lange sie nicht durch ihre Regun-
gen bis zum eigentlichen Affecte aufsteigt, in welchem,
weil die Vorstellungen aus dem Gleichgewichte kamen,
auch der Leib — die Nerven und das Blut — in eine
Aufregung gerathen, die nicht sogleich vorübergeht, son-
dern gegen den Lauf der Vorstellungen hemmend zu-
rückwirkt. Kommt es erst dahin: so gleicht der Anfall
der Leidenschaft mehr oder weniger dem Traum und
dem Wahnsinn; das Uebel läſst zwar nach, aber nur
um künftig desto furchtbarer wiederzukehren. Der Mensch
bedarf alsdann Hülfe von auſsen: und nur zu oft über-
liefert ihn das Bewuſstseyn dieses Bedürfnisses solchen
Seelenärzten, die das Schlimme noch schlimmer machen.

Man hat unter mancherley nähern Bestimmungen
oftmals, nicht bloſs gerathen, sondern versucht, eine Lei-
denschaft durch die andre zu bezwingen. Es giebt ja so-
gar Lobredner der Leidenschaften; es finden sich Leute,
die zum Beyspiel einer Nation, welche bis dahin von
politischen Leidenschaften wenig wuſste, gern dergleichen
einimpfen möchten! — —

Daſs auch gute Aerzte zuweilen durch ein künstli-
ches Geschwür, — welches sie wieder heilen können,
und das in ihrer Gewalt bleibt — dringende Gefahren
vorläufig abwenden, ist bekannt. Wer sich aber ein-
bildet, man könne aus entgegengesetzten Leidenschaften
die moralische Gesundheit erzeugen, der gleicht den Po-
litikern, welche im Ernste zwey Mächte auf Einem Bo-
den begehren. Nicht Ruhe, sondern völlige Zerrüttung
ist davon die nothwendige Folge.

Weit besser ist ein anderes Mittel, welches unsre
Moralisten seit Kant zu sehr verschmäht haben. Es ist
eine verständige Glückseligkeitslehre, welche das Be-
wuſstseyn des wahrhaft Angenehmen und Erfreulichen
zurückführt. Ein Mensch, der ein anhaltend genuſsrei-

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[116/0151] unter wechselnden Umständen doch immer dasselbe Lei- den erneuern. Hat sich nun früherhin die gesunde Ue- berlegung ausgebildet: so ist so lange noch Hülfe gegen die Leidenschaft, wie lange sie nicht durch ihre Regun- gen bis zum eigentlichen Affecte aufsteigt, in welchem, weil die Vorstellungen aus dem Gleichgewichte kamen, auch der Leib — die Nerven und das Blut — in eine Aufregung gerathen, die nicht sogleich vorübergeht, son- dern gegen den Lauf der Vorstellungen hemmend zu- rückwirkt. Kommt es erst dahin: so gleicht der Anfall der Leidenschaft mehr oder weniger dem Traum und dem Wahnsinn; das Uebel läſst zwar nach, aber nur um künftig desto furchtbarer wiederzukehren. Der Mensch bedarf alsdann Hülfe von auſsen: und nur zu oft über- liefert ihn das Bewuſstseyn dieses Bedürfnisses solchen Seelenärzten, die das Schlimme noch schlimmer machen. Man hat unter mancherley nähern Bestimmungen oftmals, nicht bloſs gerathen, sondern versucht, eine Lei- denschaft durch die andre zu bezwingen. Es giebt ja so- gar Lobredner der Leidenschaften; es finden sich Leute, die zum Beyspiel einer Nation, welche bis dahin von politischen Leidenschaften wenig wuſste, gern dergleichen einimpfen möchten! — — Daſs auch gute Aerzte zuweilen durch ein künstli- ches Geschwür, — welches sie wieder heilen können, und das in ihrer Gewalt bleibt — dringende Gefahren vorläufig abwenden, ist bekannt. Wer sich aber ein- bildet, man könne aus entgegengesetzten Leidenschaften die moralische Gesundheit erzeugen, der gleicht den Po- litikern, welche im Ernste zwey Mächte auf Einem Bo- den begehren. Nicht Ruhe, sondern völlige Zerrüttung ist davon die nothwendige Folge. Weit besser ist ein anderes Mittel, welches unsre Moralisten seit Kant zu sehr verschmäht haben. Es ist eine verständige Glückseligkeitslehre, welche das Be- wuſstseyn des wahrhaft Angenehmen und Erfreulichen zurückführt. Ein Mensch, der ein anhaltend genuſsrei-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/151>, abgerufen am 21.11.2024.