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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Zeit zu machen übrig, welche theils jenen frühern über
den Raum analog sind, theils ihrerseits Veranlassung ge-
ben können, den Raum genauer zu untersuchen.

Am Ende des §. 114. haben wir gesehen, wie die
Vorstellung des Raumes selbst, verschieden von de-
nen des Räumlichen entsteht. Das dunkle Bild des leeren
Raums ist ursprünglich das Gemisch der gegenseitig bey-
nahe gänzlich sich hemmenden Reproductionen, welche
von der Vorstellung eines Gegenstandes ausgehn, des-
sen Bewegung vor einem bunten Hintergrunde man zu-
vor beobachtet hat. Natürlich bildet sich auf ähnliche
Weise eine Vorstellung der leeren Zeit. Um den Ge-
genstand so deutlich als möglich in der Erfahrung zu
erblicken: erinnern wir uns, dass die leere Zeit am stärk-
sten dann wahrgenommen wird, wenn sie als Pause in
der Rede oder in der Musik vorkommt. Gesetzt, der
Prediger auf der Kanzel, der Lehrer auf dem Katheder,
stocke mitten in seinem Vortrage; oder es sey in einem
Tonstück (wie die Componisten zuweilen absichtlich thun)
ein ganzer Tact Pause für alle Instrumente absichtlich
angebracht: so wird jeden Augenblick der Fortgang des
Vortrages erwartet; und in diesem Erwarten mehr als je-
mals sonst, die leere Zeit wahrgenommen. Man kann
auch das letzte Beyspiel abändern. Mitten in einer sehr
vollstimmigen Musik, worin, wie etwan in der Fuge, ein
Gewühl von Melodien gleichzeitig durcheinander fuhr, sey
auf einmal nur eine Stimme hörbar, welche eine lange
Note aushält, während alle übrigen Stimmen schweigen.
Hier wird nicht leere Zeit eintreten, denn man hört fort-
während die ausgehaltene Note. Aber dagegen wird die-
ser eine Ton als dauernd wahrgenommen; warum?
weil auf ihn die Töne der andern Instrumente, welche
man erwartet, aber nicht hört, übertragen werden. Der
Grund liegt hier ganz klar am Tage. Die Bewegung
des bis dahin vernommenen Vortrags hat die Vorstellun-
gen dergestalt aufgeregt, dass sie alle mit einem unbe-
stimmten Streben
zur Reproduction fortwirken. Un-

Zeit zu machen übrig, welche theils jenen frühern über
den Raum analog sind, theils ihrerseits Veranlassung ge-
ben können, den Raum genauer zu untersuchen.

Am Ende des §. 114. haben wir gesehen, wie die
Vorstellung des Raumes selbst, verschieden von de-
nen des Räumlichen entsteht. Das dunkle Bild des leeren
Raums ist ursprünglich das Gemisch der gegenseitig bey-
nahe gänzlich sich hemmenden Reproductionen, welche
von der Vorstellung eines Gegenstandes ausgehn, des-
sen Bewegung vor einem bunten Hintergrunde man zu-
vor beobachtet hat. Natürlich bildet sich auf ähnliche
Weise eine Vorstellung der leeren Zeit. Um den Ge-
genstand so deutlich als möglich in der Erfahrung zu
erblicken: erinnern wir uns, daſs die leere Zeit am stärk-
sten dann wahrgenommen wird, wenn sie als Pause in
der Rede oder in der Musik vorkommt. Gesetzt, der
Prediger auf der Kanzel, der Lehrer auf dem Katheder,
stocke mitten in seinem Vortrage; oder es sey in einem
Tonstück (wie die Componisten zuweilen absichtlich thun)
ein ganzer Tact Pause für alle Instrumente absichtlich
angebracht: so wird jeden Augenblick der Fortgang des
Vortrages erwartet; und in diesem Erwarten mehr als je-
mals sonst, die leere Zeit wahrgenommen. Man kann
auch das letzte Beyspiel abändern. Mitten in einer sehr
vollstimmigen Musik, worin, wie etwan in der Fuge, ein
Gewühl von Melodien gleichzeitig durcheinander fuhr, sey
auf einmal nur eine Stimme hörbar, welche eine lange
Note aushält, während alle übrigen Stimmen schweigen.
Hier wird nicht leere Zeit eintreten, denn man hört fort-
während die ausgehaltene Note. Aber dagegen wird die-
ser eine Ton als dauernd wahrgenommen; warum?
weil auf ihn die Töne der andern Instrumente, welche
man erwartet, aber nicht hört, übertragen werden. Der
Grund liegt hier ganz klar am Tage. Die Bewegung
des bis dahin vernommenen Vortrags hat die Vorstellun-
gen dergestalt aufgeregt, daſs sie alle mit einem unbe-
stimmten Streben
zur Reproduction fortwirken. Un-

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[155/0190] Zeit zu machen übrig, welche theils jenen frühern über den Raum analog sind, theils ihrerseits Veranlassung ge- ben können, den Raum genauer zu untersuchen. Am Ende des §. 114. haben wir gesehen, wie die Vorstellung des Raumes selbst, verschieden von de- nen des Räumlichen entsteht. Das dunkle Bild des leeren Raums ist ursprünglich das Gemisch der gegenseitig bey- nahe gänzlich sich hemmenden Reproductionen, welche von der Vorstellung eines Gegenstandes ausgehn, des- sen Bewegung vor einem bunten Hintergrunde man zu- vor beobachtet hat. Natürlich bildet sich auf ähnliche Weise eine Vorstellung der leeren Zeit. Um den Ge- genstand so deutlich als möglich in der Erfahrung zu erblicken: erinnern wir uns, daſs die leere Zeit am stärk- sten dann wahrgenommen wird, wenn sie als Pause in der Rede oder in der Musik vorkommt. Gesetzt, der Prediger auf der Kanzel, der Lehrer auf dem Katheder, stocke mitten in seinem Vortrage; oder es sey in einem Tonstück (wie die Componisten zuweilen absichtlich thun) ein ganzer Tact Pause für alle Instrumente absichtlich angebracht: so wird jeden Augenblick der Fortgang des Vortrages erwartet; und in diesem Erwarten mehr als je- mals sonst, die leere Zeit wahrgenommen. Man kann auch das letzte Beyspiel abändern. Mitten in einer sehr vollstimmigen Musik, worin, wie etwan in der Fuge, ein Gewühl von Melodien gleichzeitig durcheinander fuhr, sey auf einmal nur eine Stimme hörbar, welche eine lange Note aushält, während alle übrigen Stimmen schweigen. Hier wird nicht leere Zeit eintreten, denn man hört fort- während die ausgehaltene Note. Aber dagegen wird die- ser eine Ton als dauernd wahrgenommen; warum? weil auf ihn die Töne der andern Instrumente, welche man erwartet, aber nicht hört, übertragen werden. Der Grund liegt hier ganz klar am Tage. Die Bewegung des bis dahin vernommenen Vortrags hat die Vorstellun- gen dergestalt aufgeregt, daſs sie alle mit einem unbe- stimmten Streben zur Reproduction fortwirken. Un-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/190>, abgerufen am 21.11.2024.