des vorzustellen. Es kann also wohl kein Zweifel seyn, dass der Begriff der Negation seinen Sitz in einer Abs- traction von den negativen Urtheilen habe. Und wann denn entstehen negative Urtheile?
Zuerst lässt sich an ihnen bemerken, dass ihr Prä- dicat nicht durch die unmittelbare Wahrnehmung kann dargeboten seyn, dass es also aus dem Vorrathe der Seele, von innen her zu dem Subjecte hinzukommen muss. Aber es würde nicht hinzukommen, wenn nicht das Subject, als die vorangehende Vorstellung, es her- beyriefe, die Vorstellung desselben erweckte. Wie kann nun ein Subject eine solche Vorstellung erwecken, die ihm als Merkmal nicht zukommt? Unmittelbar gewiss nicht. Wer in diesem Augenblicke etwas Weisses sieht, dem wird nicht das Urtheil einfallen: Weiss ist nicht schwarz; denn die Vorstellung des Schwarzen wird viel- mehr gehemmt durch die des Weissen. Nothwendig also muss da, wo ein negatives Urtheil auf natürlichem Wege entspringen soll, die zuerst erweckte Vorstellung eine andere seyn, welcher aber vermöge einer Complication oder Verschmelzung jene anhängt, die den Platz des ne- gativen Prädicats einnehmen soll. -- Ich gehe beym Eintritt des Winters aufs Feld. Mir fällt ein bekannter Baum auf, weil er jetzt entlaubt da steht. Hier erzeugt sich das Urtheil: der Baum hat keine Blätter; er ist nicht belaubt. Nämlich der Anblick des Baums erweckt die frühere Vorstellung desselben, also auch die des Laubes, mit welchem er ehedem bekleidet war. Diese tritt hervor wider die Hemmung durch den Anblick, und wird auf diese Weise ein Verneintes.
Hiebey wird man sich erinnern an die obige Erklä- rung der Begierde; die gerade auch in dem Aufstreben wider eine Hemmung ihren Sitz hat (§. 104.). Und in der That ist es bekannt, dass eben das Vermisste, das Versagte, schon als solches das Begehrte zu seyn pflegt. Dass aber nicht alles Verneinte begehrt wird, liegt, wie leicht einzusehen, an zweyen Gründen; erstlich und haupt-
des vorzustellen. Es kann also wohl kein Zweifel seyn, daſs der Begriff der Negation seinen Sitz in einer Abs- traction von den negativen Urtheilen habe. Und wann denn entstehen negative Urtheile?
Zuerst läſst sich an ihnen bemerken, daſs ihr Prä- dicat nicht durch die unmittelbare Wahrnehmung kann dargeboten seyn, daſs es also aus dem Vorrathe der Seele, von innen her zu dem Subjecte hinzukommen muſs. Aber es würde nicht hinzukommen, wenn nicht das Subject, als die vorangehende Vorstellung, es her- beyriefe, die Vorstellung desselben erweckte. Wie kann nun ein Subject eine solche Vorstellung erwecken, die ihm als Merkmal nicht zukommt? Unmittelbar gewiſs nicht. Wer in diesem Augenblicke etwas Weiſses sieht, dem wird nicht das Urtheil einfallen: Weiſs ist nicht schwarz; denn die Vorstellung des Schwarzen wird viel- mehr gehemmt durch die des Weiſsen. Nothwendig also muſs da, wo ein negatives Urtheil auf natürlichem Wege entspringen soll, die zuerst erweckte Vorstellung eine andere seyn, welcher aber vermöge einer Complication oder Verschmelzung jene anhängt, die den Platz des ne- gativen Prädicats einnehmen soll. — Ich gehe beym Eintritt des Winters aufs Feld. Mir fällt ein bekannter Baum auf, weil er jetzt entlaubt da steht. Hier erzeugt sich das Urtheil: der Baum hat keine Blätter; er ist nicht belaubt. Nämlich der Anblick des Baums erweckt die frühere Vorstellung desselben, also auch die des Laubes, mit welchem er ehedem bekleidet war. Diese tritt hervor wider die Hemmung durch den Anblick, und wird auf diese Weise ein Verneintes.
Hiebey wird man sich erinnern an die obige Erklä- rung der Begierde; die gerade auch in dem Aufstreben wider eine Hemmung ihren Sitz hat (§. 104.). Und in der That ist es bekannt, daſs eben das Vermiſste, das Versagte, schon als solches das Begehrte zu seyn pflegt. Daſs aber nicht alles Verneinte begehrt wird, liegt, wie leicht einzusehen, an zweyen Gründen; erstlich und haupt-
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des vorzustellen. Es kann also wohl kein Zweifel seyn,
daſs der Begriff der Negation seinen Sitz in einer Abs-
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denn entstehen negative Urtheile?
Zuerst läſst sich an ihnen bemerken, daſs ihr Prä-
dicat nicht durch die unmittelbare Wahrnehmung kann
dargeboten seyn, daſs es also aus dem Vorrathe der
Seele, von innen her zu dem Subjecte hinzukommen
muſs. Aber es würde nicht hinzukommen, wenn nicht
das Subject, als die vorangehende Vorstellung, es her-
beyriefe, die Vorstellung desselben erweckte. Wie kann
nun ein Subject eine solche Vorstellung erwecken, die
ihm als Merkmal nicht zukommt? Unmittelbar gewiſs
nicht. Wer in diesem Augenblicke etwas Weiſses sieht,
dem wird nicht das Urtheil einfallen: Weiſs ist nicht
schwarz; denn die Vorstellung des Schwarzen wird viel-
mehr gehemmt durch die des Weiſsen. Nothwendig also
muſs da, wo ein negatives Urtheil auf natürlichem Wege
entspringen soll, die zuerst erweckte Vorstellung eine
andere seyn, welcher aber vermöge einer Complication
oder Verschmelzung jene anhängt, die den Platz des ne-
gativen Prädicats einnehmen soll. — Ich gehe beym
Eintritt des Winters aufs Feld. Mir fällt ein bekannter
Baum auf, weil er jetzt entlaubt da steht. Hier erzeugt
sich das Urtheil: der Baum hat keine Blätter; er
ist nicht belaubt. Nämlich der Anblick des Baums
erweckt die frühere Vorstellung desselben, also auch die
des Laubes, mit welchem er ehedem bekleidet war. Diese
tritt hervor wider die Hemmung durch den Anblick, und
wird auf diese Weise ein Verneintes.
Hiebey wird man sich erinnern an die obige Erklä-
rung der Begierde; die gerade auch in dem Aufstreben
wider eine Hemmung ihren Sitz hat (§. 104.). Und in
der That ist es bekannt, daſs eben das Vermiſste, das
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/224>, abgerufen am 25.11.2024.
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