sächlich daran, dass die verneinte Vorstellung bey weitem nicht immer die vorherrschende, das Gemüth im Ganzen genommen bestimmende ist; zweytens auch daran, dass, wenn diese Vorstellung stark genug, und mit andern starken Vorstellungen wohl complicirt ist, sie alsdann fast ungehindert ins Bewusstseyn treten, und nur bloss nicht verschmelzen wird mit der momentanen Auffassung, die ihr entgegengesetzt ist. In diesem letztern Falle wird dagegen die momentane Auffassung sogleich nach ihrer Entstehung stark gehemmt werden, und es wird eine Weile dauern, ehe sie sich zu einer bedeutend wirksa- men Totalkraft ansammeln kann. (Vergl. §. 95.) Die Folge davon wird man sogleich in einem Beyspiele er- kennen. Ein blühender Baum wurde gesehen; jetzt sind die Blüthen gefallen, aber die Früchte angesetzt. Wer ihn jetzt wieder sicht, der urtheilt zuerst negativ: der Baum ist ohne Blüthen, und hintennach erst positiv: er hat aber Früchte. -- Wer dagegen zum ersten- mal in seinem Leben einen Baum, und diesen sogleich voll von Früchten sähe, der würde keins jener beyden Urtheile fällen. Welche Urtheile ihm wirklich in den Sinn kämen, die würden bestimmt seyn durch andre, früher gekannte baumähnliche Dinge. Hätte derselbe früherhin Schiffe mit Masten und Segeln gesehen, so würde er jetzt urtheilen: dieser Mast hat keine Se- gel; er hat aber Aeste, Laub, Früchte, u. s. w. Man glaube nicht, dass eine solche Reminiscenz zu weit hergehohlt sey. Kinder übertragen noch viel heteroge- nere Erinnerungen auf ihre jetzigen Wahrnehmungen; und es ist das geringste, wenn ihr Bilderbuch ihnen in jeder nur irgend menschenähnlichen Figur diese oder jene bekannte Person vergegenwärtigt. Erst nachdem ein gro- sser Reichthum von Vorstellungen angesammelt ist, fügen sich die passenden zusammen, und verdrängen die Ur- theile nach entfernten Aehnlichkeiten. --
Nach diesen Auseinandersetzungen wird es nun klar seyn, dass wir das Wesentliche in dem Act des Urthei-
sächlich daran, daſs die verneinte Vorstellung bey weitem nicht immer die vorherrschende, das Gemüth im Ganzen genommen bestimmende ist; zweytens auch daran, daſs, wenn diese Vorstellung stark genug, und mit andern starken Vorstellungen wohl complicirt ist, sie alsdann fast ungehindert ins Bewuſstseyn treten, und nur bloſs nicht verschmelzen wird mit der momentanen Auffassung, die ihr entgegengesetzt ist. In diesem letztern Falle wird dagegen die momentane Auffassung sogleich nach ihrer Entstehung stark gehemmt werden, und es wird eine Weile dauern, ehe sie sich zu einer bedeutend wirksa- men Totalkraft ansammeln kann. (Vergl. §. 95.) Die Folge davon wird man sogleich in einem Beyspiele er- kennen. Ein blühender Baum wurde gesehen; jetzt sind die Blüthen gefallen, aber die Früchte angesetzt. Wer ihn jetzt wieder sicht, der urtheilt zuerst negativ: der Baum ist ohne Blüthen, und hintennach erst positiv: er hat aber Früchte. — Wer dagegen zum ersten- mal in seinem Leben einen Baum, und diesen sogleich voll von Früchten sähe, der würde keins jener beyden Urtheile fällen. Welche Urtheile ihm wirklich in den Sinn kämen, die würden bestimmt seyn durch andre, früher gekannte baumähnliche Dinge. Hätte derselbe früherhin Schiffe mit Masten und Segeln gesehen, so würde er jetzt urtheilen: dieser Mast hat keine Se- gel; er hat aber Aeste, Laub, Früchte, u. s. w. Man glaube nicht, daſs eine solche Reminiscenz zu weit hergehohlt sey. Kinder übertragen noch viel heteroge- nere Erinnerungen auf ihre jetzigen Wahrnehmungen; und es ist das geringste, wenn ihr Bilderbuch ihnen in jeder nur irgend menschenähnlichen Figur diese oder jene bekannte Person vergegenwärtigt. Erst nachdem ein gro- ſser Reichthum von Vorstellungen angesammelt ist, fügen sich die passenden zusammen, und verdrängen die Ur- theile nach entfernten Aehnlichkeiten. —
Nach diesen Auseinandersetzungen wird es nun klar seyn, daſs wir das Wesentliche in dem Act des Urthei-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0225"n="190"/>
sächlich daran, daſs die verneinte Vorstellung bey weitem<lb/>
nicht immer die vorherrschende, das Gemüth im Ganzen<lb/>
genommen bestimmende ist; zweytens auch daran, daſs,<lb/>
wenn diese Vorstellung stark genug, und mit andern<lb/>
starken Vorstellungen wohl complicirt ist, sie alsdann<lb/>
fast ungehindert ins Bewuſstseyn treten, und nur bloſs<lb/>
nicht verschmelzen wird mit der momentanen Auffassung,<lb/>
die ihr entgegengesetzt ist. In diesem letztern Falle wird<lb/>
dagegen die momentane Auffassung sogleich nach ihrer<lb/>
Entstehung stark gehemmt werden, und es wird eine<lb/>
Weile dauern, ehe sie sich zu einer bedeutend wirksa-<lb/>
men Totalkraft ansammeln kann. (Vergl. §. 95.) Die<lb/>
Folge davon wird man sogleich in einem Beyspiele er-<lb/>
kennen. Ein blühender Baum wurde gesehen; jetzt sind<lb/>
die Blüthen gefallen, aber die Früchte angesetzt. Wer<lb/>
ihn jetzt wieder sicht, der urtheilt zuerst negativ: <hirendition="#g">der<lb/>
Baum ist ohne Blüthen</hi>, und hintennach erst positiv:<lb/><hirendition="#g">er hat aber Früchte</hi>. — Wer dagegen zum ersten-<lb/>
mal in seinem Leben einen Baum, und diesen sogleich<lb/>
voll von Früchten sähe, der würde keins jener beyden<lb/>
Urtheile fällen. Welche Urtheile ihm wirklich in den<lb/>
Sinn kämen, die würden bestimmt seyn durch andre,<lb/>
früher gekannte baumähnliche Dinge. Hätte derselbe<lb/>
früherhin Schiffe mit Masten und Segeln gesehen, so<lb/>
würde er jetzt urtheilen: <hirendition="#g">dieser Mast hat keine Se-<lb/>
gel; er hat aber Aeste, Laub, Früchte</hi>, u. s. w.<lb/>
Man glaube nicht, daſs eine solche Reminiscenz zu weit<lb/>
hergehohlt sey. Kinder übertragen noch viel heteroge-<lb/>
nere Erinnerungen auf ihre jetzigen Wahrnehmungen;<lb/>
und es ist das geringste, wenn ihr Bilderbuch ihnen in<lb/>
jeder nur irgend menschenähnlichen Figur diese oder jene<lb/>
bekannte Person vergegenwärtigt. Erst nachdem ein gro-<lb/>ſser Reichthum von Vorstellungen angesammelt ist, fügen<lb/>
sich die passenden zusammen, und verdrängen die Ur-<lb/>
theile nach entfernten Aehnlichkeiten. —</p><lb/><p>Nach diesen Auseinandersetzungen wird es nun klar<lb/>
seyn, daſs wir das Wesentliche in dem Act des Urthei-<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[190/0225]
sächlich daran, daſs die verneinte Vorstellung bey weitem
nicht immer die vorherrschende, das Gemüth im Ganzen
genommen bestimmende ist; zweytens auch daran, daſs,
wenn diese Vorstellung stark genug, und mit andern
starken Vorstellungen wohl complicirt ist, sie alsdann
fast ungehindert ins Bewuſstseyn treten, und nur bloſs
nicht verschmelzen wird mit der momentanen Auffassung,
die ihr entgegengesetzt ist. In diesem letztern Falle wird
dagegen die momentane Auffassung sogleich nach ihrer
Entstehung stark gehemmt werden, und es wird eine
Weile dauern, ehe sie sich zu einer bedeutend wirksa-
men Totalkraft ansammeln kann. (Vergl. §. 95.) Die
Folge davon wird man sogleich in einem Beyspiele er-
kennen. Ein blühender Baum wurde gesehen; jetzt sind
die Blüthen gefallen, aber die Früchte angesetzt. Wer
ihn jetzt wieder sicht, der urtheilt zuerst negativ: der
Baum ist ohne Blüthen, und hintennach erst positiv:
er hat aber Früchte. — Wer dagegen zum ersten-
mal in seinem Leben einen Baum, und diesen sogleich
voll von Früchten sähe, der würde keins jener beyden
Urtheile fällen. Welche Urtheile ihm wirklich in den
Sinn kämen, die würden bestimmt seyn durch andre,
früher gekannte baumähnliche Dinge. Hätte derselbe
früherhin Schiffe mit Masten und Segeln gesehen, so
würde er jetzt urtheilen: dieser Mast hat keine Se-
gel; er hat aber Aeste, Laub, Früchte, u. s. w.
Man glaube nicht, daſs eine solche Reminiscenz zu weit
hergehohlt sey. Kinder übertragen noch viel heteroge-
nere Erinnerungen auf ihre jetzigen Wahrnehmungen;
und es ist das geringste, wenn ihr Bilderbuch ihnen in
jeder nur irgend menschenähnlichen Figur diese oder jene
bekannte Person vergegenwärtigt. Erst nachdem ein gro-
ſser Reichthum von Vorstellungen angesammelt ist, fügen
sich die passenden zusammen, und verdrängen die Ur-
theile nach entfernten Aehnlichkeiten. —
Nach diesen Auseinandersetzungen wird es nun klar
seyn, daſs wir das Wesentliche in dem Act des Urthei-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/225>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.