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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Wort Erschleichen irgend einen Sinn hat, so hat es
diesen: in ein fremdes, gegebenes Phänomen so-
gleich die alten bekannten Dinge wieder hin-
einzudenken
. Uebrigens, wenn wir auch diesen Feh-
ler zu vermeiden stark genug wären: wie Viele von uns,
die wir uns mit Psychologie beschäftigen, sind in Neu-
Seeland gewesen? Wie Viele haben Gelegenheit, die
Wilden in ihren Wohnsitzen zu beobachten? --

Wir müssen uns begnügen, den heutigen gebildeten
Menschen zum unmittelbaren Gegenstande unserer Be-
trachtung zu machen. Aber diesen wenigstens müssen
wir so vollständig als möglich auffassen. Er ist ein Pro-
duct dessen, was wir Weltgeschichte nennen. Wir
dürfen ihn nicht aus der Geschichte herausreissen.

In ihm setzt sich eine geistige Production fort, de-
ren Anfang nicht in ihm liegt. Anregungen, die jetzt
allgemein an Jeden gelangen, der nicht etwa zu den Zi-
geunern gehört, waren ursprünglich höchst seltene Er-
zeugnisse der ausserordentlichsten Geister, oder auch
grosser Massen von Menschen, die sich innig berührten,
oder heftig zusammenstiessen. So kann es wenigstens
seyn, und schon auf die blosse Möglichkeit müssen wir
Rücksicht nehmen.

Dieser Umstand macht, dass man sich einer richti-
gen Auffassung der psychologischen Thatsachen nicht
auf einmal, und auf einem geraden Wege fortgehend,
sondern nur allmählig, mit abwechselnd hin und her ge-
lenkten Schritten wird annähern können. Der Einzelne
ist nicht vollständig aufgefasst ohne die Geschichte; aber
die Geschichte entsteht rückwärts aus der Zusammenwir-
kung der Einzelnen; und aus diesem Grunde sollte die
Psychologie zuerst das Individuum erklären, und erst
später zur Geschichte kommen. Allein wir können die
Erfahrungsgegenstände nicht aus ihren einfachen Bestand-
theilen zusammensetzen; und wie der Krystall zuerst seine
Gestalt in einer grössern Masse offenbart, aus welcher
dann auf die Grundform der kleinsten Theile geschlos-

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Wort Erschleichen irgend einen Sinn hat, so hat es
diesen: in ein fremdes, gegebenes Phänomen so-
gleich die alten bekannten Dinge wieder hin-
einzudenken
. Uebrigens, wenn wir auch diesen Feh-
ler zu vermeiden stark genug wären: wie Viele von uns,
die wir uns mit Psychologie beschäftigen, sind in Neu-
Seeland gewesen? Wie Viele haben Gelegenheit, die
Wilden in ihren Wohnsitzen zu beobachten? —

Wir müssen uns begnügen, den heutigen gebildeten
Menschen zum unmittelbaren Gegenstande unserer Be-
trachtung zu machen. Aber diesen wenigstens müssen
wir so vollständig als möglich auffassen. Er ist ein Pro-
duct dessen, was wir Weltgeschichte nennen. Wir
dürfen ihn nicht aus der Geschichte herausreiſsen.

In ihm setzt sich eine geistige Production fort, de-
ren Anfang nicht in ihm liegt. Anregungen, die jetzt
allgemein an Jeden gelangen, der nicht etwa zu den Zi-
geunern gehört, waren ursprünglich höchst seltene Er-
zeugnisse der auſserordentlichsten Geister, oder auch
groſser Massen von Menschen, die sich innig berührten,
oder heftig zusammenstieſsen. So kann es wenigstens
seyn, und schon auf die bloſse Möglichkeit müssen wir
Rücksicht nehmen.

Dieser Umstand macht, daſs man sich einer richti-
gen Auffassung der psychologischen Thatsachen nicht
auf einmal, und auf einem geraden Wege fortgehend,
sondern nur allmählig, mit abwechselnd hin und her ge-
lenkten Schritten wird annähern können. Der Einzelne
ist nicht vollständig aufgefaſst ohne die Geschichte; aber
die Geschichte entsteht rückwärts aus der Zusammenwir-
kung der Einzelnen; und aus diesem Grunde sollte die
Psychologie zuerst das Individuum erklären, und erst
später zur Geschichte kommen. Allein wir können die
Erfahrungsgegenstände nicht aus ihren einfachen Bestand-
theilen zusammensetzen; und wie der Krystall zuerst seine
Gestalt in einer gröſsern Masse offenbart, aus welcher
dann auf die Grundform der kleinsten Theile geschlos-

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[3/0038] Wort Erschleichen irgend einen Sinn hat, so hat es diesen: in ein fremdes, gegebenes Phänomen so- gleich die alten bekannten Dinge wieder hin- einzudenken. Uebrigens, wenn wir auch diesen Feh- ler zu vermeiden stark genug wären: wie Viele von uns, die wir uns mit Psychologie beschäftigen, sind in Neu- Seeland gewesen? Wie Viele haben Gelegenheit, die Wilden in ihren Wohnsitzen zu beobachten? — Wir müssen uns begnügen, den heutigen gebildeten Menschen zum unmittelbaren Gegenstande unserer Be- trachtung zu machen. Aber diesen wenigstens müssen wir so vollständig als möglich auffassen. Er ist ein Pro- duct dessen, was wir Weltgeschichte nennen. Wir dürfen ihn nicht aus der Geschichte herausreiſsen. In ihm setzt sich eine geistige Production fort, de- ren Anfang nicht in ihm liegt. Anregungen, die jetzt allgemein an Jeden gelangen, der nicht etwa zu den Zi- geunern gehört, waren ursprünglich höchst seltene Er- zeugnisse der auſserordentlichsten Geister, oder auch groſser Massen von Menschen, die sich innig berührten, oder heftig zusammenstieſsen. So kann es wenigstens seyn, und schon auf die bloſse Möglichkeit müssen wir Rücksicht nehmen. Dieser Umstand macht, daſs man sich einer richti- gen Auffassung der psychologischen Thatsachen nicht auf einmal, und auf einem geraden Wege fortgehend, sondern nur allmählig, mit abwechselnd hin und her ge- lenkten Schritten wird annähern können. Der Einzelne ist nicht vollständig aufgefaſst ohne die Geschichte; aber die Geschichte entsteht rückwärts aus der Zusammenwir- kung der Einzelnen; und aus diesem Grunde sollte die Psychologie zuerst das Individuum erklären, und erst später zur Geschichte kommen. Allein wir können die Erfahrungsgegenstände nicht aus ihren einfachen Bestand- theilen zusammensetzen; und wie der Krystall zuerst seine Gestalt in einer gröſsern Masse offenbart, aus welcher dann auf die Grundform der kleinsten Theile geschlos- A 2

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/38>, abgerufen am 21.11.2024.