philosophischen Reflexion gehört, in meinem Lehrbuche zur Einleitung in die Philosophie unter den ersten skepti- schen Fragen vorgetragen; auch in den Hauptpuncten der Metaphysik desselben in der zweyten Vorfrage er- wähnt. Der Hauptgedanke ist: Man gebe sich Rechen- schaft von dem, was man eigentlich in den sinnlichen Auffassungen als Gegebenes vorfindet. Die Summe aller gefärbten und gefühlten Stellen im Raume, ist ohne Zwei- fel gegeben; eben so die Summe aller einzelnen, für successiv gehaltenen Wahrnehmungen. Aber diese Sum- men sind auch das ganze Gegebene. Und gleichwohl enthalten dieselben keinesweges die Bestimmungen durch Distanzen im Raume und in der Zeit. Woher kommen denn nun diese Bestimmungen? -- Will man sie nicht für erschlichen erklären, und sich von ihnen losmachen, (welches unmöglich ist), so muss man sie für in uns selbst liegende, und von uns unwillkührlich in das Ge- gebene hineingetragene Formen halten.
Hieraus erklärt sich vollkommen die Kantische An- sicht. Aber die Unrichtigkeit ergiebt sich schon bey der Frage, woher nun die bestimmten Gestalten bestimm- ter Dinge? Woher die bestimmten Zeitdistanzen für be- stimmte Wahrnehmungen? Diese Frage ist nach der Kantischen Ansicht schlechterdings unbeantwortlich.
Nachdem aber vermittelst der zur Mechanik des Gei- sles gehörigen Untersuchungen sich hat erkennen lassen, auf welche Weise die räumlichen und zeitlichen Bestim- mungen sich zugleich mit den Wahrnehmungen selbst (mit der Materie des Gegebenen) psychologisch erzeu- gen: verliert die obige Reflexion ihr Gewicht; und es wird offenbar, dass man nicht, mit Kant, von dem Raume und der Zeit zu dem Räumlichen und Zeitlichen, son- dern mit den meisten Philosophen aller Zeitalter umge- kehrt von dem Räumlichen und Zeitlichen zu dem Raume und der Zeit, als den daraus abgezogenen, und dann durch neue, absichtliche Constructionen bis ins Unend- liche erweiterten Einbildungen, die in gewissem Sinne
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philosophischen Reflexion gehört, in meinem Lehrbuche zur Einleitung in die Philosophie unter den ersten skepti- schen Fragen vorgetragen; auch in den Hauptpuncten der Metaphysik desselben in der zweyten Vorfrage er- wähnt. Der Hauptgedanke ist: Man gebe sich Rechen- schaft von dem, was man eigentlich in den sinnlichen Auffassungen als Gegebenes vorfindet. Die Summe aller gefärbten und gefühlten Stellen im Raume, ist ohne Zwei- fel gegeben; eben so die Summe aller einzelnen, für successiv gehaltenen Wahrnehmungen. Aber diese Sum- men sind auch das ganze Gegebene. Und gleichwohl enthalten dieselben keinesweges die Bestimmungen durch Distanzen im Raume und in der Zeit. Woher kommen denn nun diese Bestimmungen? — Will man sie nicht für erschlichen erklären, und sich von ihnen losmachen, (welches unmöglich ist), so muſs man sie für in uns selbst liegende, und von uns unwillkührlich in das Ge- gebene hineingetragene Formen halten.
Hieraus erklärt sich vollkommen die Kantische An- sicht. Aber die Unrichtigkeit ergiebt sich schon bey der Frage, woher nun die bestimmten Gestalten bestimm- ter Dinge? Woher die bestimmten Zeitdistanzen für be- stimmte Wahrnehmungen? Diese Frage ist nach der Kantischen Ansicht schlechterdings unbeantwortlich.
Nachdem aber vermittelst der zur Mechanik des Gei- sles gehörigen Untersuchungen sich hat erkennen lassen, auf welche Weise die räumlichen und zeitlichen Bestim- mungen sich zugleich mit den Wahrnehmungen selbst (mit der Materie des Gegebenen) psychologisch erzeu- gen: verliert die obige Reflexion ihr Gewicht; und es wird offenbar, daſs man nicht, mit Kant, von dem Raume und der Zeit zu dem Räumlichen und Zeitlichen, son- dern mit den meisten Philosophen aller Zeitalter umge- kehrt von dem Räumlichen und Zeitlichen zu dem Raume und der Zeit, als den daraus abgezogenen, und dann durch neue, absichtliche Constructionen bis ins Unend- liche erweiterten Einbildungen, die in gewissem Sinne
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philosophischen Reflexion gehört, in meinem Lehrbuche
zur Einleitung in die Philosophie unter den ersten skepti-
schen Fragen vorgetragen; auch in den Hauptpuncten
der Metaphysik desselben in der zweyten Vorfrage er-
wähnt. Der Hauptgedanke ist: Man gebe sich Rechen-
schaft von dem, was man eigentlich in den sinnlichen
Auffassungen als Gegebenes vorfindet. Die Summe aller
gefärbten und gefühlten Stellen im Raume, ist ohne Zwei-
fel gegeben; eben so die Summe aller einzelnen, für
successiv gehaltenen Wahrnehmungen. Aber diese Sum-
men sind auch das ganze Gegebene. Und gleichwohl
enthalten dieselben keinesweges die Bestimmungen durch
Distanzen im Raume und in der Zeit. Woher kommen
denn nun diese Bestimmungen? — Will man sie nicht
für erschlichen erklären, und sich von ihnen losmachen,
(welches unmöglich ist), so muſs man sie für in uns
selbst liegende, und von uns unwillkührlich in das Ge-
gebene hineingetragene Formen halten.
Hieraus erklärt sich vollkommen die Kantische An-
sicht. Aber die Unrichtigkeit ergiebt sich schon bey der
Frage, woher nun die bestimmten Gestalten bestimm-
ter Dinge? Woher die bestimmten Zeitdistanzen für be-
stimmte Wahrnehmungen? Diese Frage ist nach der
Kantischen Ansicht schlechterdings unbeantwortlich.
Nachdem aber vermittelst der zur Mechanik des Gei-
sles gehörigen Untersuchungen sich hat erkennen lassen,
auf welche Weise die räumlichen und zeitlichen Bestim-
mungen sich zugleich mit den Wahrnehmungen selbst
(mit der Materie des Gegebenen) psychologisch erzeu-
gen: verliert die obige Reflexion ihr Gewicht; und es
wird offenbar, daſs man nicht, mit Kant, von dem Raume
und der Zeit zu dem Räumlichen und Zeitlichen, son-
dern mit den meisten Philosophen aller Zeitalter umge-
kehrt von dem Räumlichen und Zeitlichen zu dem Raume
und der Zeit, als den daraus abgezogenen, und dann
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/390>, abgerufen am 24.11.2024.
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