bestimmen, dass aus unsern Vorstellungen von dem was erscheint, die Ungereimtheit verschwinde. In diesem Gegensatze liegt nichts verführerisches; Niemand wird darum, weil er das Seyn zufolge des Scheins setzt, sich einbilden, das Scheinen sey eine wesentliche Eigenschaft des Seyenden; oder, der Gegensatz zwischen beyden hafte als eine wirkliche Bestimmung an und in dem Seyen- den. Denn es wäre die klärste Ungereimtheit, den Schein, das Widerspiel des Seyn, in das letztere irgendwie als eine innere Bestimmung desselben einwickeln zu wollen. Alle wahre Erklärung der Sinnenwelt muss vor allen Din- gen die Probe bestehn, dass sie das Scheinen als rein zufällig fürs Seyn darstelle.
Allein auf einen ganz andern Weg gerathen wir dort, wo vom Unbedingten geredet wird. Dieses soll zwar auch das Reale, das Seyende, die Welt der Nou- mene, bedeuten. Aber der Ausdruck, und die Verbin- dung, worin man ihn braucht, legt den Begriff in die Reihe des Bedingten, welche von ihm anfangend ohne Schwierigkeit soll fortlaufen können. Die Meinung ist hier nicht bloss, wie vorhin, dass wir im Laufe unseres Denkens, dem psychologischen Mechanismus zufolge, vom erscheinenden Bedingten zum realen Unbedingten fortschreiten: sondern, dass wirklich das Unbedingte an sich das Bedingende sey, als ob diese Verknüpfung nicht bloss zufällig wäre, sondern in der Natur des Unbeding- ten läge. -- Eine Metaphysik, die, wie die vorkantische, -- und wohl auch diese oder jene seit Kant, -- sich einer solchen Täuschung hingiebt, hat den Faden des psy- chologischen Mechanismus und seiner Vorstellungs-Rei- hen nicht abgeschnitten; die Gedanken gehen in ihr nicht wie sie sollen, sondern wie sie müssen. Es ist aber klar, dass, um zur Metaphysik zu gelangen, wir gegen den natürlichen Lauf unserer Vorstellungen wenigstens eben so viel Gewalt ausüben sollten, wie die Geometrie thut, indem sie aus dem uns vorschwebenden Raumbilde die einzelnen Dimensionen desselben heraussondert; und, wie-
bestimmen, daſs aus unsern Vorstellungen von dem was erscheint, die Ungereimtheit verschwinde. In diesem Gegensatze liegt nichts verführerisches; Niemand wird darum, weil er das Seyn zufolge des Scheins setzt, sich einbilden, das Scheinen sey eine wesentliche Eigenschaft des Seyenden; oder, der Gegensatz zwischen beyden hafte als eine wirkliche Bestimmung an und in dem Seyen- den. Denn es wäre die klärste Ungereimtheit, den Schein, das Widerspiel des Seyn, in das letztere irgendwie als eine innere Bestimmung desselben einwickeln zu wollen. Alle wahre Erklärung der Sinnenwelt muſs vor allen Din- gen die Probe bestehn, daſs sie das Scheinen als rein zufällig fürs Seyn darstelle.
Allein auf einen ganz andern Weg gerathen wir dort, wo vom Unbedingten geredet wird. Dieses soll zwar auch das Reale, das Seyende, die Welt der Nou- mene, bedeuten. Aber der Ausdruck, und die Verbin- dung, worin man ihn braucht, legt den Begriff in die Reihe des Bedingten, welche von ihm anfangend ohne Schwierigkeit soll fortlaufen können. Die Meinung ist hier nicht bloſs, wie vorhin, daſs wir im Laufe unseres Denkens, dem psychologischen Mechanismus zufolge, vom erscheinenden Bedingten zum realen Unbedingten fortschreiten: sondern, daſs wirklich das Unbedingte an sich das Bedingende sey, als ob diese Verknüpfung nicht bloſs zufällig wäre, sondern in der Natur des Unbeding- ten läge. — Eine Metaphysik, die, wie die vorkantische, — und wohl auch diese oder jene seit Kant, — sich einer solchen Täuschung hingiebt, hat den Faden des psy- chologischen Mechanismus und seiner Vorstellungs-Rei- hen nicht abgeschnitten; die Gedanken gehen in ihr nicht wie sie sollen, sondern wie sie müssen. Es ist aber klar, daſs, um zur Metaphysik zu gelangen, wir gegen den natürlichen Lauf unserer Vorstellungen wenigstens eben so viel Gewalt ausüben sollten, wie die Geometrie thut, indem sie aus dem uns vorschwebenden Raumbilde die einzelnen Dimensionen desselben heraussondert; und, wie-
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bestimmen, daſs aus unsern Vorstellungen von dem was
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darum, weil er das Seyn zufolge des Scheins setzt, sich
einbilden, das Scheinen sey eine wesentliche Eigenschaft
des Seyenden; oder, der Gegensatz zwischen beyden
hafte als eine wirkliche Bestimmung an und in dem Seyen-
den. Denn es wäre die klärste Ungereimtheit, den Schein,
das Widerspiel des Seyn, in das letztere irgendwie als
eine innere Bestimmung desselben einwickeln zu wollen.
Alle wahre Erklärung der Sinnenwelt muſs vor allen Din-
gen die Probe bestehn, daſs sie das Scheinen als rein
zufällig fürs Seyn darstelle.
Allein auf einen ganz andern Weg gerathen wir
dort, wo vom Unbedingten geredet wird. Dieses soll
zwar auch das Reale, das Seyende, die Welt der Nou-
mene, bedeuten. Aber der Ausdruck, und die Verbin-
dung, worin man ihn braucht, legt den Begriff in die
Reihe des Bedingten, welche von ihm anfangend ohne
Schwierigkeit soll fortlaufen können. Die Meinung ist
hier nicht bloſs, wie vorhin, daſs wir im Laufe unseres
Denkens, dem psychologischen Mechanismus zufolge,
vom erscheinenden Bedingten zum realen Unbedingten
fortschreiten: sondern, daſs wirklich das Unbedingte an
sich das Bedingende sey, als ob diese Verknüpfung nicht
bloſs zufällig wäre, sondern in der Natur des Unbeding-
ten läge. — Eine Metaphysik, die, wie die vorkantische, —
und wohl auch diese oder jene seit Kant, — sich einer
solchen Täuschung hingiebt, hat den Faden des psy-
chologischen Mechanismus und seiner Vorstellungs-Rei-
hen nicht abgeschnitten; die Gedanken gehen in ihr nicht
wie sie sollen, sondern wie sie müssen. Es ist aber klar,
daſs, um zur Metaphysik zu gelangen, wir gegen den
natürlichen Lauf unserer Vorstellungen wenigstens eben
so viel Gewalt ausüben sollten, wie die Geometrie thut,
indem sie aus dem uns vorschwebenden Raumbilde die
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/434>, abgerufen am 22.11.2024.
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