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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Dass Kant dieses so wenig fühlte, dass ein Mann
von so gesundem Verstande, so richtigem Tacte auch
ausserhalb des speculativen Gebietes, und von so weit-
greifender, anhaltender Wirksamkeit, in diesem Puncte
durch ein schwarzgefärbtes Glas sah; dass er dadurch
sich zu der wahrhaft unseligen Behauptung eines radi-
calen Bösen
verleiten liess: dies verdient aufrichtiges,
tiefes Bedauern. Das Böse ist kein so grosses Geheim-
niss, als es Denen scheint, die vom Guten keine deutli-
chen Begriffe haben. Nur wer es für einfach hält, wer
es in seine heterogenen Bestandtheile nicht zerlegt hat,
den befremdet das Daseyn desselben; wer aber vollends
in Affect geräth, indem er davon spricht, der taugt we-
der hier noch irgendwo zum gründlichen Untersuchen.
Als Seelenarzt gleicht er jenen chinesischen Aerzten, die
zwar nicht durch ihre Beschwörungsformeln. aber mit
Hülfe des Feuers, und tief ins Fleisch hineingestochener
Nadeln, zuweilen wirklich einen Kranken heilen, weil es
allerdings hie und da Krankheiten giebt, die mit so viel
Gewalt angegriffen werden müssen, und denen eine gelin-
dere, besonnenere Curart nicht so leicht an die Wurzel
kommen möchte. In den Gesprächen über das Böse ist
gelehrt worden, nicht bloss, dass Gutes und Böses nicht
Begriffe der Erkenntniss, sondern der Beurtheilung durch
den gegenüberstehenden Zuschauer sind, -- nicht bloss,
dass es aus mehrern, höchst verschiedenen Elementen
besteht, die eben so verschiedenen Reflexionspuncten an-
gehören, (welches schon aus der praktischen Philosophie
hätte bekannt seyn sollen): sondern auch, dass es sich
mit dem Guten und Bösen verhält wie mit den Metallen,
den edeln sammt den unedeln; sie finden sich eben

setzung des waltenden guten Princips darf als hinlänglich bekannt vor-
ausgesetzt werden. Es ist nicht nöthig, damit Kants schwankenden
Begriff von der Glücks-Würdigkeit, (für die es kein mögliches Maass
giebt,) oder gar Fichtes idealistische Ansichten, zugleich anzu-
nehmen.

Daſs Kant dieses so wenig fühlte, daſs ein Mann
von so gesundem Verstande, so richtigem Tacte auch
auſserhalb des speculativen Gebietes, und von so weit-
greifender, anhaltender Wirksamkeit, in diesem Puncte
durch ein schwarzgefärbtes Glas sah; daſs er dadurch
sich zu der wahrhaft unseligen Behauptung eines radi-
calen Bösen
verleiten lieſs: dies verdient aufrichtiges,
tiefes Bedauern. Das Böse ist kein so groſses Geheim-
niſs, als es Denen scheint, die vom Guten keine deutli-
chen Begriffe haben. Nur wer es für einfach hält, wer
es in seine heterogenen Bestandtheile nicht zerlegt hat,
den befremdet das Daseyn desselben; wer aber vollends
in Affect geräth, indem er davon spricht, der taugt we-
der hier noch irgendwo zum gründlichen Untersuchen.
Als Seelenarzt gleicht er jenen chinesischen Aerzten, die
zwar nicht durch ihre Beschwörungsformeln. aber mit
Hülfe des Feuers, und tief ins Fleisch hineingestochener
Nadeln, zuweilen wirklich einen Kranken heilen, weil es
allerdings hie und da Krankheiten giebt, die mit so viel
Gewalt angegriffen werden müssen, und denen eine gelin-
dere, besonnenere Curart nicht so leicht an die Wurzel
kommen möchte. In den Gesprächen über das Böse ist
gelehrt worden, nicht bloſs, daſs Gutes und Böses nicht
Begriffe der Erkenntniſs, sondern der Beurtheilung durch
den gegenüberstehenden Zuschauer sind, — nicht bloſs,
daſs es aus mehrern, höchst verschiedenen Elementen
besteht, die eben so verschiedenen Reflexionspuncten an-
gehören, (welches schon aus der praktischen Philosophie
hätte bekannt seyn sollen): sondern auch, daſs es sich
mit dem Guten und Bösen verhält wie mit den Metallen,
den edeln sammt den unedeln; sie finden sich eben

setzung des waltenden guten Princips darf als hinlänglich bekannt vor-
ausgesetzt werden. Es ist nicht nöthig, damit Kants schwankenden
Begriff von der Glücks-Würdigkeit, (für die es kein mögliches Maaſs
giebt,) oder gar Fichtes idealistische Ansichten, zugleich anzu-
nehmen.
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[431/0466] Daſs Kant dieses so wenig fühlte, daſs ein Mann von so gesundem Verstande, so richtigem Tacte auch auſserhalb des speculativen Gebietes, und von so weit- greifender, anhaltender Wirksamkeit, in diesem Puncte durch ein schwarzgefärbtes Glas sah; daſs er dadurch sich zu der wahrhaft unseligen Behauptung eines radi- calen Bösen verleiten lieſs: dies verdient aufrichtiges, tiefes Bedauern. Das Böse ist kein so groſses Geheim- niſs, als es Denen scheint, die vom Guten keine deutli- chen Begriffe haben. Nur wer es für einfach hält, wer es in seine heterogenen Bestandtheile nicht zerlegt hat, den befremdet das Daseyn desselben; wer aber vollends in Affect geräth, indem er davon spricht, der taugt we- der hier noch irgendwo zum gründlichen Untersuchen. Als Seelenarzt gleicht er jenen chinesischen Aerzten, die zwar nicht durch ihre Beschwörungsformeln. aber mit Hülfe des Feuers, und tief ins Fleisch hineingestochener Nadeln, zuweilen wirklich einen Kranken heilen, weil es allerdings hie und da Krankheiten giebt, die mit so viel Gewalt angegriffen werden müssen, und denen eine gelin- dere, besonnenere Curart nicht so leicht an die Wurzel kommen möchte. In den Gesprächen über das Böse ist gelehrt worden, nicht bloſs, daſs Gutes und Böses nicht Begriffe der Erkenntniſs, sondern der Beurtheilung durch den gegenüberstehenden Zuschauer sind, — nicht bloſs, daſs es aus mehrern, höchst verschiedenen Elementen besteht, die eben so verschiedenen Reflexionspuncten an- gehören, (welches schon aus der praktischen Philosophie hätte bekannt seyn sollen): sondern auch, daſs es sich mit dem Guten und Bösen verhält wie mit den Metallen, den edeln sammt den unedeln; sie finden sich eben *) *) setzung des waltenden guten Princips darf als hinlänglich bekannt vor- ausgesetzt werden. Es ist nicht nöthig, damit Kants schwankenden Begriff von der Glücks-Würdigkeit, (für die es kein mögliches Maaſs giebt,) oder gar Fichtes idealistische Ansichten, zugleich anzu- nehmen.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/466>, abgerufen am 22.11.2024.