nur in so weit, als es dem Leser, der bisher aufmerksam folgte, noch willkommen seyn kann. Eine weitläuftige Widerlegung des bekannten Irrthums wäre hier sicher nicht am rechten Orte; es ist unmöglich, dass Jemand, der das Vorhergehende gefasst hat, sich dadurch länger täuschen lasse. Aber in Kants Behandlung des Gegen- standes liegt einiges Belehrende; dies wollen wir her- ausheben.
Zuerst und vor allen Dingen unterscheidet sich Kant von denen, die auch nur einen Schritt von ihm abwei- chen, sogleich dadurch, dass ihm die Freyheit lediglich ein Glaubens-Artikel ist. "Man muss wohl bemerken, sagt er, (Kritik d. r. V. am Schlusse der Auflösung der dritten kosmologischen Idee,) dass wir nicht die Wirklich- keit der Freyheit, -- ja gar nicht einmal die Möglichkeit derselben haben darthun wollen." Ein himmelweiter Un- terschied von denen, deren unvorsichtige Philosophie sich sogar des freyen Willens unmittelbar bewusst ist; ein Beweis gänzlicher Unwissenheit in diesem Puncte.
Kant war überzeugt, dass die Freyheit sogleich ver- lornes Spiel haben würde, wenn sie in der Natur die ge- ringste Störung anrichtete. Er wusste, dass kein tüchti- ger Naturforscher sich je um sie bekümmern werde; so wenig als die Astronomie sich um die Exegese kümmert. Aber unglücklicher Weise hatte Kant keinen Begriff von speculativer Psychologie; und, was noch schlimmer war, er irrte sich in Ansehung der Grundform der praktischen Philosophie.
Es war hergebrachte Weise der Schulen und Kir- chen, die Moral und das Naturrecht in Form von Gebo- ten, Vorschriften, Befehlen abzuhandeln, als ob entwe- der der Staat oder die Gottheit mit dem Menschen rede. Kant führte nun zwar des Menschen eigene Vernunft redend ein; aber er liess sie in der alten gewohnten Weise fortreden; und kategorisch gebieten.
Wer so anfängt, der muss endigen mit der Freyheit, wie sehr auch die Natur bey ihm in Ehren und im An-
sehen
nur in so weit, als es dem Leser, der bisher aufmerksam folgte, noch willkommen seyn kann. Eine weitläuftige Widerlegung des bekannten Irrthums wäre hier sicher nicht am rechten Orte; es ist unmöglich, daſs Jemand, der das Vorhergehende gefaſst hat, sich dadurch länger täuschen lasse. Aber in Kants Behandlung des Gegen- standes liegt einiges Belehrende; dies wollen wir her- ausheben.
Zuerst und vor allen Dingen unterscheidet sich Kant von denen, die auch nur einen Schritt von ihm abwei- chen, sogleich dadurch, daſs ihm die Freyheit lediglich ein Glaubens-Artikel ist. „Man muſs wohl bemerken, sagt er, (Kritik d. r. V. am Schlusse der Auflösung der dritten kosmologischen Idee,) daſs wir nicht die Wirklich- keit der Freyheit, — ja gar nicht einmal die Möglichkeit derselben haben darthun wollen.“ Ein himmelweiter Un- terschied von denen, deren unvorsichtige Philosophie sich sogar des freyen Willens unmittelbar bewuſst ist; ein Beweis gänzlicher Unwissenheit in diesem Puncte.
Kant war überzeugt, daſs die Freyheit sogleich ver- lornes Spiel haben würde, wenn sie in der Natur die ge- ringste Störung anrichtete. Er wuſste, daſs kein tüchti- ger Naturforscher sich je um sie bekümmern werde; so wenig als die Astronomie sich um die Exegese kümmert. Aber unglücklicher Weise hatte Kant keinen Begriff von speculativer Psychologie; und, was noch schlimmer war, er irrte sich in Ansehung der Grundform der praktischen Philosophie.
Es war hergebrachte Weise der Schulen und Kir- chen, die Moral und das Naturrecht in Form von Gebo- ten, Vorschriften, Befehlen abzuhandeln, als ob entwe- der der Staat oder die Gottheit mit dem Menschen rede. Kant führte nun zwar des Menschen eigene Vernunft redend ein; aber er lieſs sie in der alten gewohnten Weise fortreden; und kategorisch gebieten.
Wer so anfängt, der muſs endigen mit der Freyheit, wie sehr auch die Natur bey ihm in Ehren und im An-
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nur in so weit, als es dem Leser, der bisher aufmerksam
folgte, noch willkommen seyn kann. Eine weitläuftige
Widerlegung des bekannten Irrthums wäre hier sicher
nicht am rechten Orte; es ist unmöglich, daſs Jemand,
der das Vorhergehende gefaſst hat, sich dadurch länger
täuschen lasse. Aber in Kants Behandlung des Gegen-
standes liegt einiges Belehrende; dies wollen wir her-
ausheben.
Zuerst und vor allen Dingen unterscheidet sich Kant
von denen, die auch nur einen Schritt von ihm abwei-
chen, sogleich dadurch, daſs ihm die Freyheit lediglich
ein Glaubens-Artikel ist. „Man muſs wohl bemerken,
sagt er, (Kritik d. r. V. am Schlusse der Auflösung der
dritten kosmologischen Idee,) daſs wir nicht die Wirklich-
keit der Freyheit, — ja gar nicht einmal die Möglichkeit
derselben haben darthun wollen.“ Ein himmelweiter Un-
terschied von denen, deren unvorsichtige Philosophie sich
sogar des freyen Willens unmittelbar bewuſst ist; ein
Beweis gänzlicher Unwissenheit in diesem Puncte.
Kant war überzeugt, daſs die Freyheit sogleich ver-
lornes Spiel haben würde, wenn sie in der Natur die ge-
ringste Störung anrichtete. Er wuſste, daſs kein tüchti-
ger Naturforscher sich je um sie bekümmern werde; so
wenig als die Astronomie sich um die Exegese kümmert.
Aber unglücklicher Weise hatte Kant keinen Begriff von
speculativer Psychologie; und, was noch schlimmer war,
er irrte sich in Ansehung der Grundform der praktischen
Philosophie.
Es war hergebrachte Weise der Schulen und Kir-
chen, die Moral und das Naturrecht in Form von Gebo-
ten, Vorschriften, Befehlen abzuhandeln, als ob entwe-
der der Staat oder die Gottheit mit dem Menschen rede.
Kant führte nun zwar des Menschen eigene Vernunft
redend ein; aber er lieſs sie in der alten gewohnten
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/483>, abgerufen am 22.11.2024.
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