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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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man sie, nach Art der Alten, entweder als Tugendlehre
oder als Glückseligkeitslehre auffasst. Dies konnte Spi-
noza bey allen seinen Fehlern wirklich lehren; denn ob-
gleich nach ihm der Mensch sich seinen eigenen, vom
Universum unabhängigen Willen nur einbildet, und
obgleich dem eingebildeten Willen auch nur eingebildete
Handlungen entsprechen, so beurtheilt doch Spinoza
selbst dies eingebildete Wollen und Thun; zum sichern
Beweise, dass die Stimme des Lobes und Tadels selbst
da nicht schweigt, wo man die Hoffnung, sich nach ihr
zu richten, so dass durch sie und um ihrentwillen in die
Natur der Dinge irgend eine Bestimmung hineinkomme, --
gänzlich aufgegeben hat.

Dieser Stimme des Lobes und Tadels, welche vor-
handen ist und vernommen wird ohne alle Frage, wieviel
dadurch könne ausgerichtet werden, -- von welcher un-
mittelbar die Tugendlehre aller Zeiten ausgegangen ist,
mittelbar aber die Pflichtenlehre und die veredelte Glück-
seligkeitslehre, -- habe ich einen neuen Namen gegeben,
und sie ästhetisches Urtheil genannt. Warum? Weil
diese Stimme bisher immer durch allerley verstärkende
Sprachröhre war vernommen worden, und man sie end-
lich einmal aus dem blossen Munde, zwar schwächer aber
deutlicher, hören musste. Dazu war der Satz nöthig:
dass jede einzelne praktische Idee auf ursprünglicher Be-
urtheilung eines Verhältnisses beruhe, und dass es so-
viele, und nicht mehr noch weniger Principien der prak-
tischen Philosophie gebe, als wieviele Verhältnisse mög-
lich seyen, worin sich ein Wollen dergestalt befinden
könne, dass es Gegenstand eines ursprünglichen Lobes
oder Tadels werde. Nun war die Hauptarbeit, diese
Verhältnisse vollständig aufzufinden, und jedes ein-
zelne in seiner einfachsten Gestalt genau zu bestimmen;
diese Arbeit aber glich vollkommen der, welche zur Be-
gründung irgend eines beliebigen Theils der Aesthetik
hätte dienen müssen.

Ueber zwanzig Jahre sind verflossen, seitdem ich

man sie, nach Art der Alten, entweder als Tugendlehre
oder als Glückseligkeitslehre auffaſst. Dies konnte Spi-
noza bey allen seinen Fehlern wirklich lehren; denn ob-
gleich nach ihm der Mensch sich seinen eigenen, vom
Universum unabhängigen Willen nur einbildet, und
obgleich dem eingebildeten Willen auch nur eingebildete
Handlungen entsprechen, so beurtheilt doch Spinoza
selbst dies eingebildete Wollen und Thun; zum sichern
Beweise, daſs die Stimme des Lobes und Tadels selbst
da nicht schweigt, wo man die Hoffnung, sich nach ihr
zu richten, so daſs durch sie und um ihrentwillen in die
Natur der Dinge irgend eine Bestimmung hineinkomme, —
gänzlich aufgegeben hat.

Dieser Stimme des Lobes und Tadels, welche vor-
handen ist und vernommen wird ohne alle Frage, wieviel
dadurch könne ausgerichtet werden, — von welcher un-
mittelbar die Tugendlehre aller Zeiten ausgegangen ist,
mittelbar aber die Pflichtenlehre und die veredelte Glück-
seligkeitslehre, — habe ich einen neuen Namen gegeben,
und sie ästhetisches Urtheil genannt. Warum? Weil
diese Stimme bisher immer durch allerley verstärkende
Sprachröhre war vernommen worden, und man sie end-
lich einmal aus dem bloſsen Munde, zwar schwächer aber
deutlicher, hören muſste. Dazu war der Satz nöthig:
daſs jede einzelne praktische Idee auf ursprünglicher Be-
urtheilung eines Verhältnisses beruhe, und daſs es so-
viele, und nicht mehr noch weniger Principien der prak-
tischen Philosophie gebe, als wieviele Verhältnisse mög-
lich seyen, worin sich ein Wollen dergestalt befinden
könne, daſs es Gegenstand eines ursprünglichen Lobes
oder Tadels werde. Nun war die Hauptarbeit, diese
Verhältnisse vollständig aufzufinden, und jedes ein-
zelne in seiner einfachsten Gestalt genau zu bestimmen;
diese Arbeit aber glich vollkommen der, welche zur Be-
gründung irgend eines beliebigen Theils der Aesthetik
hätte dienen müssen.

Ueber zwanzig Jahre sind verflossen, seitdem ich

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[450/0485] man sie, nach Art der Alten, entweder als Tugendlehre oder als Glückseligkeitslehre auffaſst. Dies konnte Spi- noza bey allen seinen Fehlern wirklich lehren; denn ob- gleich nach ihm der Mensch sich seinen eigenen, vom Universum unabhängigen Willen nur einbildet, und obgleich dem eingebildeten Willen auch nur eingebildete Handlungen entsprechen, so beurtheilt doch Spinoza selbst dies eingebildete Wollen und Thun; zum sichern Beweise, daſs die Stimme des Lobes und Tadels selbst da nicht schweigt, wo man die Hoffnung, sich nach ihr zu richten, so daſs durch sie und um ihrentwillen in die Natur der Dinge irgend eine Bestimmung hineinkomme, — gänzlich aufgegeben hat. Dieser Stimme des Lobes und Tadels, welche vor- handen ist und vernommen wird ohne alle Frage, wieviel dadurch könne ausgerichtet werden, — von welcher un- mittelbar die Tugendlehre aller Zeiten ausgegangen ist, mittelbar aber die Pflichtenlehre und die veredelte Glück- seligkeitslehre, — habe ich einen neuen Namen gegeben, und sie ästhetisches Urtheil genannt. Warum? Weil diese Stimme bisher immer durch allerley verstärkende Sprachröhre war vernommen worden, und man sie end- lich einmal aus dem bloſsen Munde, zwar schwächer aber deutlicher, hören muſste. Dazu war der Satz nöthig: daſs jede einzelne praktische Idee auf ursprünglicher Be- urtheilung eines Verhältnisses beruhe, und daſs es so- viele, und nicht mehr noch weniger Principien der prak- tischen Philosophie gebe, als wieviele Verhältnisse mög- lich seyen, worin sich ein Wollen dergestalt befinden könne, daſs es Gegenstand eines ursprünglichen Lobes oder Tadels werde. Nun war die Hauptarbeit, diese Verhältnisse vollständig aufzufinden, und jedes ein- zelne in seiner einfachsten Gestalt genau zu bestimmen; diese Arbeit aber glich vollkommen der, welche zur Be- gründung irgend eines beliebigen Theils der Aesthetik hätte dienen müssen. Ueber zwanzig Jahre sind verflossen, seitdem ich

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/485>, abgerufen am 22.11.2024.