"Gränzen ihres Wirkungskreises erweitert werden" *). Es giebt Blödsinnige, die gänzlich einer Pflanze gleichen würden, wenn man ihrem Munde die nöthige Nahrung so beständig gegenwärtig erhalten könnte, wie die Wur- zeln der Pflanze umgeben sind von der nährenden Erde.
Unerwartet ist es bey dem eben angeführten Schrift- steller, wenn er dennoch der grossen Zahl derjenigen Physiologen beytritt, welche in der Verwunderung über die Abhängigkeit der Seele vom Körper, besonders in kranken Zuständen, die erstere mit dem letztern zusam- menschmelzen, und dadurch in den Materialismus ver- fallen. "Wie wird uns," fragt Reil, "beym Anblick "dieser Horde vernunftloser Wesen," (im Irrenhause) "deren einige vielleicht ehemals einem Newton, Leib- "nitz, oder Sterne zur Seite standen? Wo bleibt un- "ser Glaube an unsern ätherischen Ursprung, an die "Immaterialität und Selbstständigkeit unseres Geistes, und "an andere Hyperbeln des Dichtungsvermögens? Wie "kann die nämliche Kraft in dem Verkehrten anders "seyn und anders wirken? Wie kann sie, deren We- "sen Thätigkeit ist, in dem Cretin Jahre lang schlum- "mern? Wie kann sie mit jedem wechselnden Mond, "gleich einem kalten Fieber, bald rasen, bald vernünftig "seyn?" -- Wie sie könne? Die allgemeine Antwort, welche hinreicht wider allen Materialismus, nämlich ver- möge des Causalverhältnisses zwischen Leib und Seele, muss einem Reil wohl bekannt gewesen seyn. Die nä- hern Bestimmungen für besondre Fälle, welche der aus- gezeichnete Mann vielleicht vermisste, werden wir in der Folge wenigstens vorzubereiten suchen. Fürs erste aber
*)Reils Rhapsodien über die psychische Cur des Wahnsinns, S. 12. Auf desselben Schriftstellers Beyträge z. Bef. einer Kurmethode auf psychischem Wege, kann ich, des darin herrschenden Schellingianismus wegen, keine Rücksicht neh- men. Dergleichen muss an der Wurzel gefasst werden; mit den Zwei- gen würde man sich unnütze Mühe geben.
„Gränzen ihres Wirkungskreises erweitert werden“ *). Es giebt Blödsinnige, die gänzlich einer Pflanze gleichen würden, wenn man ihrem Munde die nöthige Nahrung so beständig gegenwärtig erhalten könnte, wie die Wur- zeln der Pflanze umgeben sind von der nährenden Erde.
Unerwartet ist es bey dem eben angeführten Schrift- steller, wenn er dennoch der groſsen Zahl derjenigen Physiologen beytritt, welche in der Verwunderung über die Abhängigkeit der Seele vom Körper, besonders in kranken Zuständen, die erstere mit dem letztern zusam- menschmelzen, und dadurch in den Materialismus ver- fallen. „Wie wird uns,“ fragt Reil, „beym Anblick „dieser Horde vernunftloser Wesen,“ (im Irrenhause) „deren einige vielleicht ehemals einem Newton, Leib- „nitz, oder Sterne zur Seite standen? Wo bleibt un- „ser Glaube an unsern ätherischen Ursprung, an die „Immaterialität und Selbstständigkeit unseres Geistes, und „an andere Hyperbeln des Dichtungsvermögens? Wie „kann die nämliche Kraft in dem Verkehrten anders „seyn und anders wirken? Wie kann sie, deren We- „sen Thätigkeit ist, in dem Cretin Jahre lang schlum- „mern? Wie kann sie mit jedem wechselnden Mond, „gleich einem kalten Fieber, bald rasen, bald vernünftig „seyn?“ — Wie sie könne? Die allgemeine Antwort, welche hinreicht wider allen Materialismus, nämlich ver- möge des Causalverhältnisses zwischen Leib und Seele, muſs einem Reil wohl bekannt gewesen seyn. Die nä- hern Bestimmungen für besondre Fälle, welche der aus- gezeichnete Mann vielleicht vermiſste, werden wir in der Folge wenigstens vorzubereiten suchen. Fürs erste aber
*)Reils Rhapsodien über die psychische Cur des Wahnsinns, S. 12. Auf desselben Schriftstellers Beyträge z. Bef. einer Kurmethode auf psychischem Wege, kann ich, des darin herrschenden Schellingianismus wegen, keine Rücksicht neh- men. Dergleichen muſs an der Wurzel gefaſst werden; mit den Zwei- gen würde man sich unnütze Mühe geben.
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„Gränzen ihres Wirkungskreises erweitert werden“ *).
Es giebt Blödsinnige, die gänzlich einer Pflanze gleichen
würden, wenn man ihrem Munde die nöthige Nahrung
so beständig gegenwärtig erhalten könnte, wie die Wur-
zeln der Pflanze umgeben sind von der nährenden Erde.
Unerwartet ist es bey dem eben angeführten Schrift-
steller, wenn er dennoch der groſsen Zahl derjenigen
Physiologen beytritt, welche in der Verwunderung über
die Abhängigkeit der Seele vom Körper, besonders in
kranken Zuständen, die erstere mit dem letztern zusam-
menschmelzen, und dadurch in den Materialismus ver-
fallen. „Wie wird uns,“ fragt Reil, „beym Anblick
„dieser Horde vernunftloser Wesen,“ (im Irrenhause)
„deren einige vielleicht ehemals einem Newton, Leib-
„nitz, oder Sterne zur Seite standen? Wo bleibt un-
„ser Glaube an unsern ätherischen Ursprung, an die
„Immaterialität und Selbstständigkeit unseres Geistes, und
„an andere Hyperbeln des Dichtungsvermögens? Wie
„kann die nämliche Kraft in dem Verkehrten anders
„seyn und anders wirken? Wie kann sie, deren We-
„sen Thätigkeit ist, in dem Cretin Jahre lang schlum-
„mern? Wie kann sie mit jedem wechselnden Mond,
„gleich einem kalten Fieber, bald rasen, bald vernünftig
„seyn?“ — Wie sie könne? Die allgemeine Antwort,
welche hinreicht wider allen Materialismus, nämlich ver-
möge des Causalverhältnisses zwischen Leib und Seele,
muſs einem Reil wohl bekannt gewesen seyn. Die nä-
hern Bestimmungen für besondre Fälle, welche der aus-
gezeichnete Mann vielleicht vermiſste, werden wir in der
Folge wenigstens vorzubereiten suchen. Fürs erste aber
*) Reils Rhapsodien über die psychische Cur des
Wahnsinns, S. 12. Auf desselben Schriftstellers Beyträge z.
Bef. einer Kurmethode auf psychischem Wege, kann ich,
des darin herrschenden Schellingianismus wegen, keine Rücksicht neh-
men. Dergleichen muſs an der Wurzel gefaſst werden; mit den Zwei-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/506>, abgerufen am 22.11.2024.
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