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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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ihnen Niemand half, und weil das Glück freyes Spiel
fand, Güter und Vorrechte auf wenigen Puncten anzu-
häufen: dann freylich befällt den Staat die Auszehrung;
aber man muss darum nicht sein höheres Alter anklagen.
Nicht die Jahre schaden ihm, sondern Mangel an Vor-
sicht in den wichtigsten Puncten.

Diese Bruchstücke der Mechanik des Staats schliesse
ich mit derselben Erinnerung, wie jene der Statik; ich
habe nämlich nicht vom künstlichen, sondern vom kunst-
losen Mechanismus des Staats zu sprechen Veranlassung
gehabt. Alle Wirkung der Reflexion, folglich der po-
sitiven Gesetze
, musste bey Seite gesetzt werden,
weil die psychologischen Vorarbeiten des ersten Theils
darüber noch kein Licht geben. Nur die allgemeine Be-
merkung will ich beyfügen: dass die Gesetze, indem sie
den natürlichen Neigungen der Menschen einen Zügel
anlegen, die Continuität unterbrechen, womit der Na-
tur-Mechanismus, sich selbst überlassen, fortwirken würde.
Aber er gleicht dem Strome, der anschwillt vor dem
Damme. Hat er dessen Höhe erreicht, so stürzt er hin-
über, und reisst ihn fort. Der kluge Staatsmann lässt es
dahin nicht kommen; seine Kunst gleicht der des Was-
serbaues.


Das Vorstehende konnte dienen, durch eine auffal-
lende Anwendung auf vielbesprochene Gegenstände die
Erinnerung an den ersten Theil zu beleben und zusam-
menzudrängen. Aber noch eine andre Vosbereitung ist
nöthig für diesen zweyten Theil; der bey seinen Haupt-
gegenständen nur in so fern die Anwendung der frü-
hern Lehren auf die Erfahrung gestattet, als diese letz-
tere durch Analyse dafür empfänglich gemacht wird.

Wenn ein Kasten vor uns stände, in welchem etwas
eingepackt läge, das wir einzeln besehen wollten: so
würden wir es unmöglich in der Ordnung auspacken
können, in der es hineingekommen war; sondern nur in

ihnen Niemand half, und weil das Glück freyes Spiel
fand, Güter und Vorrechte auf wenigen Puncten anzu-
häufen: dann freylich befällt den Staat die Auszehrung;
aber man muſs darum nicht sein höheres Alter anklagen.
Nicht die Jahre schaden ihm, sondern Mangel an Vor-
sicht in den wichtigsten Puncten.

Diese Bruchstücke der Mechanik des Staats schlieſse
ich mit derselben Erinnerung, wie jene der Statik; ich
habe nämlich nicht vom künstlichen, sondern vom kunst-
losen Mechanismus des Staats zu sprechen Veranlassung
gehabt. Alle Wirkung der Reflexion, folglich der po-
sitiven Gesetze
, muſste bey Seite gesetzt werden,
weil die psychologischen Vorarbeiten des ersten Theils
darüber noch kein Licht geben. Nur die allgemeine Be-
merkung will ich beyfügen: daſs die Gesetze, indem sie
den natürlichen Neigungen der Menschen einen Zügel
anlegen, die Continuität unterbrechen, womit der Na-
tur-Mechanismus, sich selbst überlassen, fortwirken würde.
Aber er gleicht dem Strome, der anschwillt vor dem
Damme. Hat er dessen Höhe erreicht, so stürzt er hin-
über, und reiſst ihn fort. Der kluge Staatsmann läſst es
dahin nicht kommen; seine Kunst gleicht der des Was-
serbaues.


Das Vorstehende konnte dienen, durch eine auffal-
lende Anwendung auf vielbesprochene Gegenstände die
Erinnerung an den ersten Theil zu beleben und zusam-
menzudrängen. Aber noch eine andre Vosbereitung ist
nöthig für diesen zweyten Theil; der bey seinen Haupt-
gegenständen nur in so fern die Anwendung der frü-
hern Lehren auf die Erfahrung gestattet, als diese letz-
tere durch Analyse dafür empfänglich gemacht wird.

Wenn ein Kasten vor uns stände, in welchem etwas
eingepackt läge, das wir einzeln besehen wollten: so
würden wir es unmöglich in der Ordnung auspacken
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[36/0071] ihnen Niemand half, und weil das Glück freyes Spiel fand, Güter und Vorrechte auf wenigen Puncten anzu- häufen: dann freylich befällt den Staat die Auszehrung; aber man muſs darum nicht sein höheres Alter anklagen. Nicht die Jahre schaden ihm, sondern Mangel an Vor- sicht in den wichtigsten Puncten. Diese Bruchstücke der Mechanik des Staats schlieſse ich mit derselben Erinnerung, wie jene der Statik; ich habe nämlich nicht vom künstlichen, sondern vom kunst- losen Mechanismus des Staats zu sprechen Veranlassung gehabt. Alle Wirkung der Reflexion, folglich der po- sitiven Gesetze, muſste bey Seite gesetzt werden, weil die psychologischen Vorarbeiten des ersten Theils darüber noch kein Licht geben. Nur die allgemeine Be- merkung will ich beyfügen: daſs die Gesetze, indem sie den natürlichen Neigungen der Menschen einen Zügel anlegen, die Continuität unterbrechen, womit der Na- tur-Mechanismus, sich selbst überlassen, fortwirken würde. Aber er gleicht dem Strome, der anschwillt vor dem Damme. Hat er dessen Höhe erreicht, so stürzt er hin- über, und reiſst ihn fort. Der kluge Staatsmann läſst es dahin nicht kommen; seine Kunst gleicht der des Was- serbaues. Das Vorstehende konnte dienen, durch eine auffal- lende Anwendung auf vielbesprochene Gegenstände die Erinnerung an den ersten Theil zu beleben und zusam- menzudrängen. Aber noch eine andre Vosbereitung ist nöthig für diesen zweyten Theil; der bey seinen Haupt- gegenständen nur in so fern die Anwendung der frü- hern Lehren auf die Erfahrung gestattet, als diese letz- tere durch Analyse dafür empfänglich gemacht wird. Wenn ein Kasten vor uns stände, in welchem etwas eingepackt läge, das wir einzeln besehen wollten: so würden wir es unmöglich in der Ordnung auspacken können, in der es hineingekommen war; sondern nur in

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/71>, abgerufen am 24.11.2024.