Aber zweytens wissen wir aus der Lehre von den Complicationen und Verschmelzungen, dass der wirkliche Actus des Vorstellens allemal von bestimmten Repro- ductions-Gesetzen abhängt, die sich sogleich bilden, in- dem die einfachen Empfindungen zusammen kommen, und sogleich wirken, indem, sey es auch nur nach der geringsten augenblicklichen Hemmung, die Vorstellungen sich wieder heben. Wir wissen, dass hier alles auf die Ordnung und Stärke der Auffassungen ankommt; und überdies, dass zufällige Hemmungen die Reprodu- ction der Reihen, und ihrer Verwebungen, sehr leicht verkürzen und verkümmern, -- ja dass eine Reihe, an welcher einige Glieder fehlen, neue falsche Verbin- dungen eingehn kann, die sie nicht würde zugelassen haben, wenn sie sich im Bewusstseyn vollständig ent- wickelt hätte. (So gehts im Traume.)
Wir werden uns also nicht wundern, wenn ein zer- streuter Mensch, der nicht recht zuhört und zusieht, ab- weicht von der Qualität des Vorgestellten, wie der ge- naue Beobachter es findet; oder wenn ein Trunkener oder Träumender, dessen Vorstellungsreihen einer unge- wöhnlichen Hemmung unterworfen sind, Zeichen des Un- verstandes giebt.
Was aber die Kinder angeht, so können sie mitten in Kinderspielen doch für ihre Jahre verständig genug seyn. Nur den Verstand der Männer muss man von ihnen nicht fordern, aus dem einfachen Grunde, weil es bey den Männern eine Menge von Verbindungen, und gerade deshalb von Gegenkräften unter den Vor- stellungen giebt, welche zu erwerben jene noch nicht Zeit und Gelegenheit hatten. Dasselbe gilt von den Thieren, die auch in ihrer Art verständig genug seyn können, obgleich sie dem Menschen, der sie mit frem- dem Maasse misst, unverständig dünken.
Der Verstand bezieht sich also auf die Zusammen setzung der Vorstellungen, sammt den davon abhängen- den Reproductions-Gesetzen; und das Verständig-Wer-
Aber zweytens wissen wir aus der Lehre von den Complicationen und Verschmelzungen, daſs der wirkliche Actus des Vorstellens allemal von bestimmten Repro- ductions-Gesetzen abhängt, die sich sogleich bilden, in- dem die einfachen Empfindungen zusammen kommen, und sogleich wirken, indem, sey es auch nur nach der geringsten augenblicklichen Hemmung, die Vorstellungen sich wieder heben. Wir wissen, daſs hier alles auf die Ordnung und Stärke der Auffassungen ankommt; und überdies, daſs zufällige Hemmungen die Reprodu- ction der Reihen, und ihrer Verwebungen, sehr leicht verkürzen und verkümmern, — ja daſs eine Reihe, an welcher einige Glieder fehlen, neue falsche Verbin- dungen eingehn kann, die sie nicht würde zugelassen haben, wenn sie sich im Bewuſstseyn vollständig ent- wickelt hätte. (So gehts im Traume.)
Wir werden uns also nicht wundern, wenn ein zer- streuter Mensch, der nicht recht zuhört und zusieht, ab- weicht von der Qualität des Vorgestellten, wie der ge- naue Beobachter es findet; oder wenn ein Trunkener oder Träumender, dessen Vorstellungsreihen einer unge- wöhnlichen Hemmung unterworfen sind, Zeichen des Un- verstandes giebt.
Was aber die Kinder angeht, so können sie mitten in Kinderspielen doch für ihre Jahre verständig genug seyn. Nur den Verstand der Männer muſs man von ihnen nicht fordern, aus dem einfachen Grunde, weil es bey den Männern eine Menge von Verbindungen, und gerade deshalb von Gegenkräften unter den Vor- stellungen giebt, welche zu erwerben jene noch nicht Zeit und Gelegenheit hatten. Dasselbe gilt von den Thieren, die auch in ihrer Art verständig genug seyn können, obgleich sie dem Menschen, der sie mit frem- dem Maaſse miſst, unverständig dünken.
Der Verstand bezieht sich also auf die Zusammen setzung der Vorstellungen, sammt den davon abhängen- den Reproductions-Gesetzen; und das Verständig-Wer-
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Aber zweytens wissen wir aus der Lehre von den
Complicationen und Verschmelzungen, daſs der wirkliche
Actus des Vorstellens allemal von bestimmten Repro-
ductions-Gesetzen abhängt, die sich sogleich bilden, in-
dem die einfachen Empfindungen zusammen kommen,
und sogleich wirken, indem, sey es auch nur nach der
geringsten augenblicklichen Hemmung, die Vorstellungen
sich wieder heben. Wir wissen, daſs hier alles auf die
Ordnung und Stärke der Auffassungen ankommt;
und überdies, daſs zufällige Hemmungen die Reprodu-
ction der Reihen, und ihrer Verwebungen, sehr leicht
verkürzen und verkümmern, — ja daſs eine Reihe, an
welcher einige Glieder fehlen, neue falsche Verbin-
dungen eingehn kann, die sie nicht würde zugelassen
haben, wenn sie sich im Bewuſstseyn vollständig ent-
wickelt hätte. (So gehts im Traume.)
Wir werden uns also nicht wundern, wenn ein zer-
streuter Mensch, der nicht recht zuhört und zusieht, ab-
weicht von der Qualität des Vorgestellten, wie der ge-
naue Beobachter es findet; oder wenn ein Trunkener
oder Träumender, dessen Vorstellungsreihen einer unge-
wöhnlichen Hemmung unterworfen sind, Zeichen des Un-
verstandes giebt.
Was aber die Kinder angeht, so können sie mitten
in Kinderspielen doch für ihre Jahre verständig genug
seyn. Nur den Verstand der Männer muſs man von
ihnen nicht fordern, aus dem einfachen Grunde, weil es
bey den Männern eine Menge von Verbindungen,
und gerade deshalb von Gegenkräften unter den Vor-
stellungen giebt, welche zu erwerben jene noch nicht
Zeit und Gelegenheit hatten. Dasselbe gilt von den
Thieren, die auch in ihrer Art verständig genug seyn
können, obgleich sie dem Menschen, der sie mit frem-
dem Maaſse miſst, unverständig dünken.
Der Verstand bezieht sich also auf die Zusammen
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/77>, abgerufen am 21.11.2024.
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