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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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ten Theile wird das wahre Verhältniß einigermaaßen kennt-
lich gemacht werden.

134. Man kann die Frage aufwerfen, wie die Mensch-
heit überhaupt angelegt sey? Es ist bekannt, daß längere
Erfahrung und sorgfältiges Studium der menschlichen Ge-
sinnungen sehr viel von der guten Meinung wegzunehmen
pflegen, die etwan die Außenseite einer gebildeten Gesell-
schaft bey dem Jünglinge erweckt, der noch nicht weiß, wie-
viel Schlechtes die Menschen in sich verstecken und heimlich
ernähren. Allein diese Thatsache beweiset weniger gegen
die Anlage der Menschheit von Natur, als gegen das grobe
Verfahren, welches bisher noch durchgehends da angewendet
wird, wo man Menschen bilden will. Jndem dieses Verfah-
ren (vorzüglich wegen der Unvollkommenheiten des Staats
und der Kirche) vorschnell auf das äußere Benehmen der
Menschen gewirkt hat (seit Jahrhunderten), ist ein Misverhältniß
entstanden zwischen Scheinen und Seyn, welches
die alten und mittlern Zeiten schwerlich in dem Grade kön-
nen gekannt haben, wie die unsrigen, da es in jenen weit
weniger von verpflanzter und nachgeahmter Cuttur gab, als
bey uns. -- Uebrigens ist die Anlage der Menschheit etwas
anderes, als die Anlage einzelner Menschen. Jene geht
auf die gesellschaftliche Entwickelung im Ganzen; also ganz
vorzüglich auf das Verhältniß zwischen den seltenen großen
Geistern, die in der Geschichte Epoche machen, und der
Menge der gewöhnlichen Menschen, die nur Bildung em-
pfangen und fortleiten können. Um hierüber aus Thatsa-
chen mit einiger Sicherheit zu urtheilen, dazu ist unsre
Menschengeschichte, die nur erst wenige Jahrtausende um-
faßt, noch viel zu kurz. Ungeachtet des alten Spruches:
nichts Neues unter der Sonne! geschieht noch viel
zu viel Neues, als das man die irdische Bahn der Mensch-
heit schon überschauen könnte.


ten Theile wird das wahre Verhältniß einigermaaßen kennt-
lich gemacht werden.

134. Man kann die Frage aufwerfen, wie die Mensch-
heit überhaupt angelegt sey? Es ist bekannt, daß längere
Erfahrung und sorgfältiges Studium der menschlichen Ge-
sinnungen sehr viel von der guten Meinung wegzunehmen
pflegen, die etwan die Außenseite einer gebildeten Gesell-
schaft bey dem Jünglinge erweckt, der noch nicht weiß, wie-
viel Schlechtes die Menschen in sich verstecken und heimlich
ernähren. Allein diese Thatsache beweiset weniger gegen
die Anlage der Menschheit von Natur, als gegen das grobe
Verfahren, welches bisher noch durchgehends da angewendet
wird, wo man Menschen bilden will. Jndem dieses Verfah-
ren (vorzüglich wegen der Unvollkommenheiten des Staats
und der Kirche) vorschnell auf das äußere Benehmen der
Menschen gewirkt hat (seit Jahrhunderten), ist ein Misverhältniß
entstanden zwischen Scheinen und Seyn, welches
die alten und mittlern Zeiten schwerlich in dem Grade kön-
nen gekannt haben, wie die unsrigen, da es in jenen weit
weniger von verpflanzter und nachgeahmter Cuttur gab, als
bey uns. — Uebrigens ist die Anlage der Menschheit etwas
anderes, als die Anlage einzelner Menschen. Jene geht
auf die gesellschaftliche Entwickelung im Ganzen; also ganz
vorzüglich auf das Verhältniß zwischen den seltenen großen
Geistern, die in der Geschichte Epoche machen, und der
Menge der gewöhnlichen Menschen, die nur Bildung em-
pfangen und fortleiten können. Um hierüber aus Thatsa-
chen mit einiger Sicherheit zu urtheilen, dazu ist unsre
Menschengeschichte, die nur erst wenige Jahrtausende um-
faßt, noch viel zu kurz. Ungeachtet des alten Spruches:
nichts Neues unter der Sonne! geschieht noch viel
zu viel Neues, als das man die irdische Bahn der Mensch-
heit schon überschauen könnte.


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[106/0114] ten Theile wird das wahre Verhältniß einigermaaßen kennt- lich gemacht werden. 134. Man kann die Frage aufwerfen, wie die Mensch- heit überhaupt angelegt sey? Es ist bekannt, daß längere Erfahrung und sorgfältiges Studium der menschlichen Ge- sinnungen sehr viel von der guten Meinung wegzunehmen pflegen, die etwan die Außenseite einer gebildeten Gesell- schaft bey dem Jünglinge erweckt, der noch nicht weiß, wie- viel Schlechtes die Menschen in sich verstecken und heimlich ernähren. Allein diese Thatsache beweiset weniger gegen die Anlage der Menschheit von Natur, als gegen das grobe Verfahren, welches bisher noch durchgehends da angewendet wird, wo man Menschen bilden will. Jndem dieses Verfah- ren (vorzüglich wegen der Unvollkommenheiten des Staats und der Kirche) vorschnell auf das äußere Benehmen der Menschen gewirkt hat (seit Jahrhunderten), ist ein Misverhältniß entstanden zwischen Scheinen und Seyn, welches die alten und mittlern Zeiten schwerlich in dem Grade kön- nen gekannt haben, wie die unsrigen, da es in jenen weit weniger von verpflanzter und nachgeahmter Cuttur gab, als bey uns. — Uebrigens ist die Anlage der Menschheit etwas anderes, als die Anlage einzelner Menschen. Jene geht auf die gesellschaftliche Entwickelung im Ganzen; also ganz vorzüglich auf das Verhältniß zwischen den seltenen großen Geistern, die in der Geschichte Epoche machen, und der Menge der gewöhnlichen Menschen, die nur Bildung em- pfangen und fortleiten können. Um hierüber aus Thatsa- chen mit einiger Sicherheit zu urtheilen, dazu ist unsre Menschengeschichte, die nur erst wenige Jahrtausende um- faßt, noch viel zu kurz. Ungeachtet des alten Spruches: nichts Neues unter der Sonne! geschieht noch viel zu viel Neues, als das man die irdische Bahn der Mensch- heit schon überschauen könnte.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/114>, abgerufen am 24.11.2024.