den psychischen Mechanismus und dessen mögliche
Hemmun- gen erkannt hat.
145. Die Wuth, oder Tobsucht, eigentliche Raserey, besteht in einem Drange zu
körperlichen Handlungen, ohne Zweck, auch wohl wider Willen. Sehr gewöhnlich ist
es ein Drang zu zerstörenden Handlungen, mit äußerster
und gefährlicher Heftigkeit. Daß hiebey körperliche Krank- heit zum Grunde
liegt, ist klar genug, denn im Geistigen findet sich kein Princip der Einheit
für diese Zustände.
Gleichwohl kommt das Handeln mit Willen und zugleich wider
Willen, auch als rein psychologisches Phänomen bey Gesunden vor *) . Daher darf man die Handlungen der Rasenden noch lange
nicht für bloß auto- matisch halten, wenn sie schon denselben widerstreben. Die
Schwierigkeit liegt auch hier bloß in der falschen Ansicht von dem Willen,
als einem Seelenvermögen, welches sich selbst zu widerstreiten scheint, indem es
dasselbe will und zugleich nicht will.
Anmerkung. Die sonderbare Frage: ob es Tob- sucht ohne
Wahn geben könne? sollte wohl schon durch die Erscheinungen an der Wasserscheu
beantwortet seyn. Gewiß kann die vom Unterleibe ausgehende stürmische Erregung
des Gefäßsystems einen Drang zu wüthenden Handlungen hervorrufen, ohne das
Gehirn gleichmäßig zu verletzen; eben so gut als in der Cholera das Blut durch
Nerveneinfluß stockt und fast erstarrt, während die Besinnung des Ster- benden wenig getrübt ist. Schon die Affecten veranlaßten uns oben, der
partiellen Wirkung gewisser Gemüthszustände
*) Vergleiche die Abhandlung von Christian Jakob Kraus: de paradoxo, edi interdum ab homine actiones voluntarias, ipso non solum invito,
verum adeo reluctante; in dessen nachge- lassenen philosophischen
Schriften.
den psychischen Mechanismus und dessen mögliche
Hemmun- gen erkannt hat.
145. Die Wuth, oder Tobsucht, eigentliche Raserey, besteht in einem Drange zu
körperlichen Handlungen, ohne Zweck, auch wohl wider Willen. Sehr gewöhnlich ist
es ein Drang zu zerstörenden Handlungen, mit äußerster
und gefährlicher Heftigkeit. Daß hiebey körperliche Krank- heit zum Grunde
liegt, ist klar genug, denn im Geistigen findet sich kein Princip der Einheit
für diese Zustände.
Gleichwohl kommt das Handeln mit Willen und zugleich wider
Willen, auch als rein psychologisches Phänomen bey Gesunden vor *) . Daher darf man die Handlungen der Rasenden noch lange
nicht für bloß auto- matisch halten, wenn sie schon denselben widerstreben. Die
Schwierigkeit liegt auch hier bloß in der falschen Ansicht von dem Willen,
als einem Seelenvermögen, welches sich selbst zu widerstreiten scheint, indem es
dasselbe will und zugleich nicht will.
Anmerkung. Die sonderbare Frage: ob es Tob- sucht ohne
Wahn geben könne? sollte wohl schon durch die Erscheinungen an der Wasserscheu
beantwortet seyn. Gewiß kann die vom Unterleibe ausgehende stürmische Erregung
des Gefäßsystems einen Drang zu wüthenden Handlungen hervorrufen, ohne das
Gehirn gleichmäßig zu verletzen; eben so gut als in der Cholera das Blut durch
Nerveneinfluß stockt und fast erstarrt, während die Besinnung des Ster- benden wenig getrübt ist. Schon die Affecten veranlaßten uns oben, der
partiellen Wirkung gewisser Gemüthszustände
*) Vergleiche die Abhandlung von Christian Jakob Kraus: de paradoxo, edi interdum ab homine actiones voluntarias, ipso non solum invito,
verum adeo reluctante; in dessen nachge- lassenen philosophischen
Schriften.
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den psychischen Mechanismus und dessen mögliche Hemmun-
gen erkannt hat.
145. Die Wuth, oder Tobsucht, eigentliche Raserey,
besteht in einem Drange zu körperlichen Handlungen, ohne
Zweck, auch wohl wider Willen. Sehr gewöhnlich ist es
ein Drang zu zerstörenden Handlungen, mit äußerster
und gefährlicher Heftigkeit. Daß hiebey körperliche Krank-
heit zum Grunde liegt, ist klar genug, denn im Geistigen
findet sich kein Princip der Einheit für diese Zustände.
Gleichwohl kommt das Handeln mit Willen und
zugleich wider Willen, auch als rein psychologisches
Phänomen bey Gesunden vor *)
. Daher darf man die
Handlungen der Rasenden noch lange nicht für bloß auto-
matisch halten, wenn sie schon denselben widerstreben. Die
Schwierigkeit liegt auch hier bloß in der falschen Ansicht
von dem Willen, als einem Seelenvermögen, welches sich
selbst zu widerstreiten scheint, indem es dasselbe will
und zugleich nicht will.
Anmerkung. Die sonderbare Frage: ob es Tob-
sucht ohne Wahn geben könne? sollte wohl schon durch die
Erscheinungen an der Wasserscheu beantwortet seyn. Gewiß
kann die vom Unterleibe ausgehende stürmische Erregung
des Gefäßsystems einen Drang zu wüthenden Handlungen
hervorrufen, ohne das Gehirn gleichmäßig zu verletzen; eben
so gut als in der Cholera das Blut durch Nerveneinfluß
stockt und fast erstarrt, während die Besinnung des Ster-
benden wenig getrübt ist. Schon die Affecten veranlaßten
uns oben, der partiellen Wirkung gewisser Gemüthszustände
*) Vergleiche die Abhandlung von Christian Jakob Kraus: de
paradoxo, edi interdum ab homine actiones voluntarias, ipso
non solum invito, verum adeo reluctante; in dessen nachge-
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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/121>, abgerufen am 16.02.2025.
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