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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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seyn müssen; zweytens wäre alsdann die genaueste Harmo-
nie unter diesen Seelen vorauszusetzen, so daß sie für völlig
gleiche Exemplare einer Art gelten könnten; dies aber ist
im allerhöchsten Grade unwahrscheinlich, und deshalb der
ganze Gedanke verwerflich. -- Wenn es dem Menschen im
Streite der Vernunft und Leidenschaft zuweilen scheint, als
hätte er mehrere Seelen, so ist dies ein psychisches Phäno-
men, dessen Erklärung tieser unten vorkommen wird, und
welches man mit dem eben erwähnten paradoxen Gedanken
gar nicht in Verbindung setzen darf.

164. Einer einzigen Seele also dient im menschlichen
Leibe das ganze Nervensystem, und vermittelst desselben ist
sie in diesen Leib hineingepflanzt, mehr ihm zur Last als
zur Hülfe, denn er lebt als Pflanze für sich, wofern ihm
Nahrung und ein zuträglicher Platz gegeben wird, welches
bey ganz Blödsinnigen zuweilen andre Menschen besorgen.
(Einige Erzählungen von gänzlich blödsinnig Gebornen
erregen den Gedanken, daß sie vielleicht wirklich nur vege-
tirende Leiber, ohne Seele, seyn mochten.)

165. Bey der engen Causalverknüpfung aller Theile
in dem ganzen Systeme, welches wir Mensch nennen,
kann nun die vielfältige Abhängigkeit des Geistes vom Leibe
auf keine Weise befremden. Desto wundervoller ist es, daß
im Ganzen das Nervensystem fast nur zur Dienstbarkeit
geschaffen zu seyn scheint, wie man mehr und mehr erken-
nen wird, wenn man sieht, wie wenig von physiologischen
Voraussetzungen nöthig ist, um die Geistes -
Zustände und
Tätigkeiten zu erklären. Doch dient das Nervensystem nur
im gesunden Menschen; in Krankheiten zeigt es sich unge-
horsam und eigenwillig, und in manchen Geistes-Zerrüttun-gen,
besonders in der Narrheit, kehrt sich das Verhältniß
zwischen den Nerven und der Seele gerade um. Dies ist
ein Fingerzeig, daß wir den gesunden Zustand nicht als


seyn müssen; zweytens wäre alsdann die genaueste Harmo-
nie unter diesen Seelen vorauszusetzen, so daß sie für völlig
gleiche Exemplare einer Art gelten könnten; dies aber ist
im allerhöchsten Grade unwahrscheinlich, und deshalb der
ganze Gedanke verwerflich. — Wenn es dem Menschen im
Streite der Vernunft und Leidenschaft zuweilen scheint, als
hätte er mehrere Seelen, so ist dies ein psychisches Phäno-
men, dessen Erklärung tieser unten vorkommen wird, und
welches man mit dem eben erwähnten paradoxen Gedanken
gar nicht in Verbindung setzen darf.

164. Einer einzigen Seele also dient im menschlichen
Leibe das ganze Nervensystem, und vermittelst desselben ist
sie in diesen Leib hineingepflanzt, mehr ihm zur Last als
zur Hülfe, denn er lebt als Pflanze für sich, wofern ihm
Nahrung und ein zuträglicher Platz gegeben wird, welches
bey ganz Blödsinnigen zuweilen andre Menschen besorgen.
(Einige Erzählungen von gänzlich blödsinnig Gebornen
erregen den Gedanken, daß sie vielleicht wirklich nur vege-
tirende Leiber, ohne Seele, seyn mochten.)

165. Bey der engen Causalverknüpfung aller Theile
in dem ganzen Systeme, welches wir Mensch nennen,
kann nun die vielfältige Abhängigkeit des Geistes vom Leibe
auf keine Weise befremden. Desto wundervoller ist es, daß
im Ganzen das Nervensystem fast nur zur Dienstbarkeit
geschaffen zu seyn scheint, wie man mehr und mehr erken-
nen wird, wenn man sieht, wie wenig von physiologischen
Voraussetzungen nöthig ist, um die Geistes -
Zustände und
Tätigkeiten zu erklären. Doch dient das Nervensystem nur
im gesunden Menschen; in Krankheiten zeigt es sich unge-
horsam und eigenwillig, und in manchen Geistes-Zerrüttun-gen,
besonders in der Narrheit, kehrt sich das Verhältniß
zwischen den Nerven und der Seele gerade um. Dies ist
ein Fingerzeig, daß wir den gesunden Zustand nicht als


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[131/0139] seyn müssen; zweytens wäre alsdann die genaueste Harmo- nie unter diesen Seelen vorauszusetzen, so daß sie für völlig gleiche Exemplare einer Art gelten könnten; dies aber ist im allerhöchsten Grade unwahrscheinlich, und deshalb der ganze Gedanke verwerflich. — Wenn es dem Menschen im Streite der Vernunft und Leidenschaft zuweilen scheint, als hätte er mehrere Seelen, so ist dies ein psychisches Phäno- men, dessen Erklärung tieser unten vorkommen wird, und welches man mit dem eben erwähnten paradoxen Gedanken gar nicht in Verbindung setzen darf. 164. Einer einzigen Seele also dient im menschlichen Leibe das ganze Nervensystem, und vermittelst desselben ist sie in diesen Leib hineingepflanzt, mehr ihm zur Last als zur Hülfe, denn er lebt als Pflanze für sich, wofern ihm Nahrung und ein zuträglicher Platz gegeben wird, welches bey ganz Blödsinnigen zuweilen andre Menschen besorgen. (Einige Erzählungen von gänzlich blödsinnig Gebornen erregen den Gedanken, daß sie vielleicht wirklich nur vege- tirende Leiber, ohne Seele, seyn mochten.) 165. Bey der engen Causalverknüpfung aller Theile in dem ganzen Systeme, welches wir Mensch nennen, kann nun die vielfältige Abhängigkeit des Geistes vom Leibe auf keine Weise befremden. Desto wundervoller ist es, daß im Ganzen das Nervensystem fast nur zur Dienstbarkeit geschaffen zu seyn scheint, wie man mehr und mehr erken- nen wird, wenn man sieht, wie wenig von physiologischen Voraussetzungen nöthig ist, um die Geistes - Zustände und Tätigkeiten zu erklären. Doch dient das Nervensystem nur im gesunden Menschen; in Krankheiten zeigt es sich unge- horsam und eigenwillig, und in manchen Geistes-Zerrüttun-gen, besonders in der Narrheit, kehrt sich das Verhältniß zwischen den Nerven und der Seele gerade um. Dies ist ein Fingerzeig, daß wir den gesunden Zustand nicht als

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/139>, abgerufen am 18.12.2024.