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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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Prädicat aus, bey Veränderungen, die man an den Din-
gen bemerkt, z. B. der Baum blühet, oder das Neue ist
das Subject, und wird unter ein bekanntes Pradicat sub-
sumirt, z. B. bey allen Antworten auf die Frage: Was
ist das?

Die letztern Bemerkungen sind freylich nur particulär;
allein psychologisch gmommen ist oft das Allgemeine aus
dem Besondern zu erklären, weil sehr oft besondere Vor-
stellungsarten durch Uebertragung erweitert werden. Wie
die Begriffe der Jrrational-Größen entstehen, indem die
Vorstellung einer Zerlegung in gleiche Factoren auch auf
diejenigen Zahlen übertragen wird, die nicht aus mehrern
gleichen Factoren bestehen: so kann auch die allgemeine Ge-
wohnheit, alle Rede in die Form der Urtheile zu bringen,
einen sehr speciellen Anfang genommen haben: und es ist
keinesweges erlaubt vorauszusetzen, daß alle Gedanken, die
jetzt in der Form einer Verknüpfung von Subject und Prä-
dicat erscheinen, den Grund dazu in sich selbst enthalten.

Anmerkung. Urtheile wie A=A, oder: der Stein
ist nicht süß
, sind Schul-Formeln und Schul-Beyspiele.
Wird ursprünglich geurtheilt, so verräth sich darin der Stand-
punct des Urtheilenden. Kinder urtheilen und fragen, wo
der Erwachsene seine schon zusammengefügten Substantive
und Adjective nicht mehr trennt; und wo er theils durch
Gewohnheit beschränkt ist, theils die Gränzen des mensch-
lichen Wissens kennt, theils die Dinge nur von der Ge-
schäffts-Seite sehen will.

Der Proceß der Wölbung und Zuspitzung (26) ist da
leicht zu erkennen, wo auf die Frage: was ist das? Ge-
antwortet wird, "Es ist nichts als Schnee," sagte ein
Kind, dem man einen Schneekuchen geschenkt hatte. Hier
war der Kuchen das Subject, dessen Auffassung die Wöl-
bung: was für ein Kuchen? veranlaßte, bis die Zuspitzung

Prädicat aus, bey Veränderungen, die man an den Din-
gen bemerkt, z. B. der Baum blühet, oder das Neue ist
das Subject, und wird unter ein bekanntes Pradicat sub-
sumirt, z. B. bey allen Antworten auf die Frage: Was
ist das?

Die letztern Bemerkungen sind freylich nur particulär;
allein psychologisch gmommen ist oft das Allgemeine aus
dem Besondern zu erklären, weil sehr oft besondere Vor-
stellungsarten durch Uebertragung erweitert werden. Wie
die Begriffe der Jrrational-Größen entstehen, indem die
Vorstellung einer Zerlegung in gleiche Factoren auch auf
diejenigen Zahlen übertragen wird, die nicht aus mehrern
gleichen Factoren bestehen: so kann auch die allgemeine Ge-
wohnheit, alle Rede in die Form der Urtheile zu bringen,
einen sehr speciellen Anfang genommen haben: und es ist
keinesweges erlaubt vorauszusetzen, daß alle Gedanken, die
jetzt in der Form einer Verknüpfung von Subject und Prä-
dicat erscheinen, den Grund dazu in sich selbst enthalten.

Anmerkung. Urtheile wie A=A, oder: der Stein
ist nicht süß
, sind Schul-Formeln und Schul-Beyspiele.
Wird ursprünglich geurtheilt, so verräth sich darin der Stand-
punct des Urtheilenden. Kinder urtheilen und fragen, wo
der Erwachsene seine schon zusammengefügten Substantive
und Adjective nicht mehr trennt; und wo er theils durch
Gewohnheit beschränkt ist, theils die Gränzen des mensch-
lichen Wissens kennt, theils die Dinge nur von der Ge-
schäffts-Seite sehen will.

Der Proceß der Wölbung und Zuspitzung (26) ist da
leicht zu erkennen, wo auf die Frage: was ist das? Ge-
antwortet wird, „Es ist nichts als Schnee,“ sagte ein
Kind, dem man einen Schneekuchen geschenkt hatte. Hier
war der Kuchen das Subject, dessen Auffassung die Wöl-
bung: was für ein Kuchen? veranlaßte, bis die Zuspitzung

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[67/0075] Prädicat aus, bey Veränderungen, die man an den Din- gen bemerkt, z. B. der Baum blühet, oder das Neue ist das Subject, und wird unter ein bekanntes Pradicat sub- sumirt, z. B. bey allen Antworten auf die Frage: Was ist das? Die letztern Bemerkungen sind freylich nur particulär; allein psychologisch gmommen ist oft das Allgemeine aus dem Besondern zu erklären, weil sehr oft besondere Vor- stellungsarten durch Uebertragung erweitert werden. Wie die Begriffe der Jrrational-Größen entstehen, indem die Vorstellung einer Zerlegung in gleiche Factoren auch auf diejenigen Zahlen übertragen wird, die nicht aus mehrern gleichen Factoren bestehen: so kann auch die allgemeine Ge- wohnheit, alle Rede in die Form der Urtheile zu bringen, einen sehr speciellen Anfang genommen haben: und es ist keinesweges erlaubt vorauszusetzen, daß alle Gedanken, die jetzt in der Form einer Verknüpfung von Subject und Prä- dicat erscheinen, den Grund dazu in sich selbst enthalten. Anmerkung. Urtheile wie A=A, oder: der Stein ist nicht süß, sind Schul-Formeln und Schul-Beyspiele. Wird ursprünglich geurtheilt, so verräth sich darin der Stand- punct des Urtheilenden. Kinder urtheilen und fragen, wo der Erwachsene seine schon zusammengefügten Substantive und Adjective nicht mehr trennt; und wo er theils durch Gewohnheit beschränkt ist, theils die Gränzen des mensch- lichen Wissens kennt, theils die Dinge nur von der Ge- schäffts-Seite sehen will. Der Proceß der Wölbung und Zuspitzung (26) ist da leicht zu erkennen, wo auf die Frage: was ist das? Ge- antwortet wird, „Es ist nichts als Schnee,“ sagte ein Kind, dem man einen Schneekuchen geschenkt hatte. Hier war der Kuchen das Subject, dessen Auffassung die Wöl- bung: was für ein Kuchen? veranlaßte, bis die Zuspitzung

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/75>, abgerufen am 26.11.2024.