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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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wenn er sonst nirgend anzutreffen wäre! Jn allen
wilden Sprachen lebt er; nur freilich in jeder nach
Maaß der Bildung der Nation und nach Eigenheit
ihrer Denkart. Ein Volk, das seine Gefühle nicht
viel und nicht scharf unterschied: Ein Volk, das
nicht Herz gnug hatte, sich auszudrücken, und
Ausdrücke mächtig zu rauben -- wird auch wegen
Nuancen des Gefühls weniger verlegen seyn, oder
sich mit schleichenden Halbausdrücken behelfen.
Eine feurige Nation offenbart ihren Muth in sol-
chen Metaphern, sie mag in Orient, oder Nord-
amerika wohnen: die aber in ihrem tiefsten Grun-
de die meisten solcher Verpflanzungen zeigt; deren
Sprache ist voraus die ärmste, die älteste, die ur-
sprünglichste gewesen, und die war ohne Zweifel
in Orient.

Man siehet wie schwer bei einer solchen Spra-
che "ein wahres Etymologikon" seyn müsse?
Die so verschiedne Bedeutungen eines Radicis, die
in einer Stammtafel abgeleitet und auf ihren
Ursprung zurükgeführt werden sollen, sind nur
durch so dunkle Gefühle, durch flüchtige Neben-
ideen, durch Mitempfindungen verwandt, die

aus

wenn er ſonſt nirgend anzutreffen waͤre! Jn allen
wilden Sprachen lebt er; nur freilich in jeder nach
Maaß der Bildung der Nation und nach Eigenheit
ihrer Denkart. Ein Volk, das ſeine Gefuͤhle nicht
viel und nicht ſcharf unterſchied: Ein Volk, das
nicht Herz gnug hatte, ſich auszudruͤcken, und
Ausdruͤcke maͤchtig zu rauben — wird auch wegen
Nuancen des Gefuͤhls weniger verlegen ſeyn, oder
ſich mit ſchleichenden Halbausdruͤcken behelfen.
Eine feurige Nation offenbart ihren Muth in ſol-
chen Metaphern, ſie mag in Orient, oder Nord-
amerika wohnen: die aber in ihrem tiefſten Grun-
de die meiſten ſolcher Verpflanzungen zeigt; deren
Sprache iſt voraus die aͤrmſte, die aͤlteſte, die ur-
ſpruͤnglichſte geweſen, und die war ohne Zweifel
in Orient.

Man ſiehet wie ſchwer bei einer ſolchen Spra-
che „ein wahres Etymologikon„ ſeyn muͤſſe?
Die ſo verſchiedne Bedeutungen eines Radicis, die
in einer Stammtafel abgeleitet und auf ihren
Urſprung zuruͤkgefuͤhrt werden ſollen, ſind nur
durch ſo dunkle Gefuͤhle, durch fluͤchtige Neben-
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[112/0118] wenn er ſonſt nirgend anzutreffen waͤre! Jn allen wilden Sprachen lebt er; nur freilich in jeder nach Maaß der Bildung der Nation und nach Eigenheit ihrer Denkart. Ein Volk, das ſeine Gefuͤhle nicht viel und nicht ſcharf unterſchied: Ein Volk, das nicht Herz gnug hatte, ſich auszudruͤcken, und Ausdruͤcke maͤchtig zu rauben — wird auch wegen Nuancen des Gefuͤhls weniger verlegen ſeyn, oder ſich mit ſchleichenden Halbausdruͤcken behelfen. Eine feurige Nation offenbart ihren Muth in ſol- chen Metaphern, ſie mag in Orient, oder Nord- amerika wohnen: die aber in ihrem tiefſten Grun- de die meiſten ſolcher Verpflanzungen zeigt; deren Sprache iſt voraus die aͤrmſte, die aͤlteſte, die ur- ſpruͤnglichſte geweſen, und die war ohne Zweifel in Orient. Man ſiehet wie ſchwer bei einer ſolchen Spra- che „ein wahres Etymologikon„ ſeyn muͤſſe? Die ſo verſchiedne Bedeutungen eines Radicis, die in einer Stammtafel abgeleitet und auf ihren Urſprung zuruͤkgefuͤhrt werden ſollen, ſind nur durch ſo dunkle Gefuͤhle, durch fluͤchtige Neben- ideen, durch Mitempfindungen verwandt, die aus

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/118>, abgerufen am 30.11.2024.