Menschlich erklärt sich die Sache von selbst. So uneigentlich schwere, seltne Jdeen ausgedrükt werden mußten: so häufig konntens die vorlie- genden und leichten. Je unbekannter man mit der Natur war; von je mehrern Seiten man sie aus Unerfahrenheit ansehen und kaum wieder erkennen konnte; je weniger man a priori son- dern nach sinnlichen Umständen erfand: desto mehr Synonyme! Je Mehrere erfanden, je umherirrender und abgetrennter sie erfanden, und doch nur meistens in Einem Kreise für Ei- nerlei Sachen erfanden; wenn sie nachher zusam- men kamen, wenn ihre Sprachen in einen Ocean von Wörterbuch flossen: desto mehr Synonyme! Verworfen konnten alle nicht werden; denn welche solltens? sie waren bei diesem Stamm, bei dieser Familie, bei diesem Dichter bräuchlich; es ward also, wie jener Arabische Wörterbuchschreiber sagt, da er 400 Wörter von Elend aufgezählt hatte, das vierhundertste Elend, die Wörter des Elends auf- zählen zu müssen. Eine solche Sprache ist reich, weil sie arm ist, weil ihre Erfinder noch nicht Plan gnug hatten, arm zu werden -- und der müs-
sige
H 4
Menſchlich erklaͤrt ſich die Sache von ſelbſt. So uneigentlich ſchwere, ſeltne Jdeen ausgedruͤkt werden mußten: ſo haͤufig konntens die vorlie- genden und leichten. Je unbekannter man mit der Natur war; von je mehrern Seiten man ſie aus Unerfahrenheit anſehen und kaum wieder erkennen konnte; je weniger man a priori ſon- dern nach ſinnlichen Umſtaͤnden erfand: deſto mehr Synonyme! Je Mehrere erfanden, je umherirrender und abgetrennter ſie erfanden, und doch nur meiſtens in Einem Kreiſe fuͤr Ei- nerlei Sachen erfanden; wenn ſie nachher zuſam- men kamen, wenn ihre Sprachen in einen Ocean von Woͤrterbuch floſſen: deſto mehr Synonyme! Verworfen konnten alle nicht werden; denn welche ſolltens? ſie waren bei dieſem Stamm, bei dieſer Familie, bei dieſem Dichter braͤuchlich; es ward alſo, wie jener Arabiſche Woͤrterbuchſchreiber ſagt, da er 400 Woͤrter von Elend aufgezaͤhlt hatte, das vierhundertſte Elend, die Woͤrter des Elends auf- zaͤhlen zu muͤſſen. Eine ſolche Sprache iſt reich, weil ſie arm iſt, weil ihre Erfinder noch nicht Plan gnug hatten, arm zu werden — und der muͤſ-
ſige
H 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0125"n="119"/><p>Menſchlich erklaͤrt ſich die Sache von ſelbſt.<lb/>
So uneigentlich ſchwere, <hirendition="#fr">ſeltne</hi> Jdeen ausgedruͤkt<lb/>
werden mußten: ſo <hirendition="#fr">haͤufig</hi> konntens die <hirendition="#fr">vorlie-<lb/>
genden</hi> und <hirendition="#fr">leichten.</hi> Je <hirendition="#fr">unbekannter</hi> man<lb/>
mit der Natur war; von je <hirendition="#fr">mehrern</hi> Seiten man<lb/>ſie aus Unerfahrenheit <hirendition="#fr">anſehen</hi> und kaum wieder<lb/>
erkennen konnte; je <hirendition="#fr">weniger</hi> man <hirendition="#aq">a priori</hi>ſon-<lb/>
dern <hirendition="#fr">nach ſinnlichen Umſtaͤnden</hi> erfand: deſto<lb/>
mehr Synonyme! Je <hirendition="#fr">Mehrere</hi> erfanden, je<lb/><hirendition="#fr">umherirrender</hi> und <hirendition="#fr">abgetrennter</hi>ſie erfanden,<lb/>
und doch nur meiſtens in <hirendition="#fr">Einem Kreiſe</hi> fuͤr <hirendition="#fr">Ei-<lb/>
nerlei</hi> Sachen erfanden; wenn ſie nachher zuſam-<lb/>
men kamen, wenn ihre Sprachen in einen Ocean<lb/>
von Woͤrterbuch floſſen: deſto mehr Synonyme!<lb/>
Verworfen konnten alle nicht werden; denn welche<lb/>ſolltens? ſie waren bei dieſem Stamm, bei dieſer<lb/>
Familie, bei dieſem Dichter braͤuchlich; es ward<lb/>
alſo, wie jener Arabiſche Woͤrterbuchſchreiber ſagt,<lb/>
da er 400 Woͤrter von Elend aufgezaͤhlt hatte, das<lb/>
vierhundertſte Elend, die Woͤrter des Elends auf-<lb/>
zaͤhlen zu muͤſſen. Eine ſolche Sprache iſt reich,<lb/>
weil ſie arm iſt, weil ihre Erfinder noch nicht Plan<lb/>
gnug hatten, arm zu werden — und <hirendition="#fr">der</hi> muͤſ-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">H 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">ſige</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[119/0125]
Menſchlich erklaͤrt ſich die Sache von ſelbſt.
So uneigentlich ſchwere, ſeltne Jdeen ausgedruͤkt
werden mußten: ſo haͤufig konntens die vorlie-
genden und leichten. Je unbekannter man
mit der Natur war; von je mehrern Seiten man
ſie aus Unerfahrenheit anſehen und kaum wieder
erkennen konnte; je weniger man a priori ſon-
dern nach ſinnlichen Umſtaͤnden erfand: deſto
mehr Synonyme! Je Mehrere erfanden, je
umherirrender und abgetrennter ſie erfanden,
und doch nur meiſtens in Einem Kreiſe fuͤr Ei-
nerlei Sachen erfanden; wenn ſie nachher zuſam-
men kamen, wenn ihre Sprachen in einen Ocean
von Woͤrterbuch floſſen: deſto mehr Synonyme!
Verworfen konnten alle nicht werden; denn welche
ſolltens? ſie waren bei dieſem Stamm, bei dieſer
Familie, bei dieſem Dichter braͤuchlich; es ward
alſo, wie jener Arabiſche Woͤrterbuchſchreiber ſagt,
da er 400 Woͤrter von Elend aufgezaͤhlt hatte, das
vierhundertſte Elend, die Woͤrter des Elends auf-
zaͤhlen zu muͤſſen. Eine ſolche Sprache iſt reich,
weil ſie arm iſt, weil ihre Erfinder noch nicht Plan
gnug hatten, arm zu werden — und der muͤſ-
ſige
H 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/125>, abgerufen am 11.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.