IV. "So wie die menschliche Seele sich keiner "Abstraktion aus dem Reiche der Geister "erinnern kann, zu der sie nicht durch Ge- "legenheiten und Erweckungen der Sinne "gelangte: so hat auch keine Sprache ein "Abstraktum, zu dem sie nicht durch Ton "und Gefühl gelangt wäre. Und je ur- "sprünglicher die Sprache, desto weniger Ab- "straktionen, desto mehr Gefühle." Jch kann in diesem unermeßlichen Felde wieder nur Blumen brechen:
Der ganze Bau der morgenländischen Spra- chen zeuget, daß alle ihre Abstrakta voraus Sinn- lichkeiten gewesen: Der Geist war Wind, Hauch, Nachtsturm! Heilig hieß abgesondert, ein- sam: die Seele hieß der Othem: der Zorn das Schnauben der Nase u. s. w. Die allgemeinern Begriffe wurden ihr also erst später durch Abstrak- tion, Witz, Phantasie, Gleichniß, Analogie u. s. w. angebildet -- im tiefsten Abgrunde der Sprache liegt keine Einzige!
Bei allen Wilden findet dasselbe nach Maaß der Cultur statt. Jn der Sprache von Baran-
tola
IV. „So wie die menſchliche Seele ſich keiner „Abſtraktion aus dem Reiche der Geiſter „erinnern kann, zu der ſie nicht durch Ge- „legenheiten und Erweckungen der Sinne „gelangte: ſo hat auch keine Sprache ein „Abſtraktum, zu dem ſie nicht durch Ton „und Gefuͤhl gelangt waͤre. Und je ur- „ſpruͤnglicher die Sprache, deſto weniger Ab- „ſtraktionen, deſto mehr Gefuͤhle.„ Jch kann in dieſem unermeßlichen Felde wieder nur Blumen brechen:
Der ganze Bau der morgenlaͤndiſchen Spra- chen zeuget, daß alle ihre Abſtrakta voraus Sinn- lichkeiten geweſen: Der Geiſt war Wind, Hauch, Nachtſturm! Heilig hieß abgeſondert, ein- ſam: die Seele hieß der Othem: der Zorn das Schnauben der Naſe u. ſ. w. Die allgemeinern Begriffe wurden ihr alſo erſt ſpaͤter durch Abſtrak- tion, Witz, Phantaſie, Gleichniß, Analogie u. ſ. w. angebildet — im tiefſten Abgrunde der Sprache liegt keine Einzige!
Bei allen Wilden findet daſſelbe nach Maaß der Cultur ſtatt. Jn der Sprache von Baran-
tola
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IV. „So wie die menſchliche Seele ſich keiner
„Abſtraktion aus dem Reiche der Geiſter
„erinnern kann, zu der ſie nicht durch Ge-
„legenheiten und Erweckungen der Sinne
„gelangte: ſo hat auch keine Sprache ein
„Abſtraktum, zu dem ſie nicht durch Ton
„und Gefuͤhl gelangt waͤre. Und je ur-
„ſpruͤnglicher die Sprache, deſto weniger Ab-
„ſtraktionen, deſto mehr Gefuͤhle.„ Jch
kann in dieſem unermeßlichen Felde wieder
nur Blumen brechen:
Der ganze Bau der morgenlaͤndiſchen Spra-
chen zeuget, daß alle ihre Abſtrakta voraus Sinn-
lichkeiten geweſen: Der Geiſt war Wind, Hauch,
Nachtſturm! Heilig hieß abgeſondert, ein-
ſam: die Seele hieß der Othem: der Zorn das
Schnauben der Naſe u. ſ. w. Die allgemeinern
Begriffe wurden ihr alſo erſt ſpaͤter durch Abſtrak-
tion, Witz, Phantaſie, Gleichniß, Analogie u. ſ. w.
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liegt keine Einzige!
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/128>, abgerufen am 11.02.2025.
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