Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.der Wehmuth; nehmet sie allein und sie ist ein Wun- A 5
der Wehmuth; nehmet ſie allein und ſie iſt ein Wun- A 5
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0015" n="9"/> der Wehmuth; nehmet ſie allein und ſie iſt ein<lb/> kalter Waſſertropfe! bringet ſie unters Mikroſcop<lb/> und — ich will nicht wiſſen, was ſie da ſeyn mag!<lb/> Dieſer ermattende Hauch, der halbe Seufzer, der<lb/> auf der vom Schmerz verzognen Lippe ſo ruͤhrend<lb/> ſtirbt — ſondert ihn ab von allen ſeinen lebendi-<lb/> gen Gehuͤlfen und er iſt ein leerer Luftſtoß. Kanns<lb/> mit den Toͤnen der Empfindung anders ſeyn? Jn<lb/> ihrem lebendigen Zuſammenhange, im ganzen<lb/> Bilde der wuͤrkenden Natur, begleitet von ſo vie-<lb/> len andern Erſcheinungen ſind ſie ruͤhrend und<lb/> gnugſam; aber von allen getrennet, herausgeriſſen,<lb/> ihres Lebens beraubet, freilich nichts als Ziffern.<lb/> Die Stimme der Natur iſt gemahlter, verwill-<lb/> kuͤhrter Buchſtabe. — — <hi rendition="#fr">Wenig ſind dieſer<lb/> Sprachtoͤne</hi> freilich; allein die empfindſame Na-<lb/> tur, ſo fern ſie blos Mechaniſch leidet, hat auch<lb/> weniger Hauptarten der Empfindung, als unſre<lb/> Pſychologien der Seele, als Leidenſchaften, anzaͤh-<lb/> len oder andichten. Nur jedes Gefuͤhl iſt in ſol-<lb/> chem Zuſtande, je weniger in Faͤden zertheilt, ein<lb/> um ſo maͤchtiger anziehendes Band: die Toͤne re-<lb/> den nicht viel, aber ſtark. Ob der Klageton uͤber<lb/> <fw place="bottom" type="sig">A 5</fw><fw place="bottom" type="catch">Wun-</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [9/0015]
der Wehmuth; nehmet ſie allein und ſie iſt ein
kalter Waſſertropfe! bringet ſie unters Mikroſcop
und — ich will nicht wiſſen, was ſie da ſeyn mag!
Dieſer ermattende Hauch, der halbe Seufzer, der
auf der vom Schmerz verzognen Lippe ſo ruͤhrend
ſtirbt — ſondert ihn ab von allen ſeinen lebendi-
gen Gehuͤlfen und er iſt ein leerer Luftſtoß. Kanns
mit den Toͤnen der Empfindung anders ſeyn? Jn
ihrem lebendigen Zuſammenhange, im ganzen
Bilde der wuͤrkenden Natur, begleitet von ſo vie-
len andern Erſcheinungen ſind ſie ruͤhrend und
gnugſam; aber von allen getrennet, herausgeriſſen,
ihres Lebens beraubet, freilich nichts als Ziffern.
Die Stimme der Natur iſt gemahlter, verwill-
kuͤhrter Buchſtabe. — — Wenig ſind dieſer
Sprachtoͤne freilich; allein die empfindſame Na-
tur, ſo fern ſie blos Mechaniſch leidet, hat auch
weniger Hauptarten der Empfindung, als unſre
Pſychologien der Seele, als Leidenſchaften, anzaͤh-
len oder andichten. Nur jedes Gefuͤhl iſt in ſol-
chem Zuſtande, je weniger in Faͤden zertheilt, ein
um ſo maͤchtiger anziehendes Band: die Toͤne re-
den nicht viel, aber ſtark. Ob der Klageton uͤber
Wun-
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