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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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schon wußte, oder für das, was sie künftig daran
zu knüpfen gedenkt: sie berechnet also ihren Vor-
rath, den sie gesammlet, oder noch zu sammlen
gedenkt: und so wird sie eine Kraft unverruckt
zu sammlen.
Solch eine Kette gehet bis an den
Tod fort. Gleichsam nie der ganze Mensch:
immer in Entwiklung, im Fortgange, in Ver-
vollkommung. Eine Würksamkeit hebt sich durch
die andre: eine baut auf die andre: eine entwi-
ckelt sich aus der andren. Es werden Lebensalter,
Epochen, die wir nur nach den Stuffen der Merk-
lichkeit benennen, die aber, weil der Mensch nie
fühlt, wie er wächset: sondern nur immer wie er
gewachsen ist, sich in ein unendlich kleines theilen
lassen. Wir wachsen immer aus einer Kindheit,
so alt wir seyn mögen, sind immer im Gange, un-
ruhig, ungesättigt: Das Wesentliche unsers Le-
bens ist nie Genuß sondern immer Progreßion,
und wir sind nie Menschen gewesen, bis wir --
zu Ende gelebt haben; dahingegen die Biene,
Biene war, als sie ihre erste Zelle bauete. Zu
allen Zeiten würkt freilich dies Gesetz der Vervoll-
kommung, der Progreßion durch Besonnenheit,

nicht
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ſchon wußte, oder fuͤr das, was ſie kuͤnftig daran
zu knuͤpfen gedenkt: ſie berechnet alſo ihren Vor-
rath, den ſie geſammlet, oder noch zu ſammlen
gedenkt: und ſo wird ſie eine Kraft unverruckt
zu ſammlen.
Solch eine Kette gehet bis an den
Tod fort. Gleichſam nie der ganze Menſch:
immer in Entwiklung, im Fortgange, in Ver-
vollkommung. Eine Wuͤrkſamkeit hebt ſich durch
die andre: eine baut auf die andre: eine entwi-
ckelt ſich aus der andren. Es werden Lebensalter,
Epochen, die wir nur nach den Stuffen der Merk-
lichkeit benennen, die aber, weil der Menſch nie
fuͤhlt, wie er waͤchſet: ſondern nur immer wie er
gewachſen iſt, ſich in ein unendlich kleines theilen
laſſen. Wir wachſen immer aus einer Kindheit,
ſo alt wir ſeyn moͤgen, ſind immer im Gange, un-
ruhig, ungeſaͤttigt: Das Weſentliche unſers Le-
bens iſt nie Genuß ſondern immer Progreßion,
und wir ſind nie Menſchen geweſen, bis wir —
zu Ende gelebt haben; dahingegen die Biene,
Biene war, als ſie ihre erſte Zelle bauete. Zu
allen Zeiten wuͤrkt freilich dies Geſetz der Vervoll-
kommung, der Progreßion durch Beſonnenheit,

nicht
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[151/0157] ſchon wußte, oder fuͤr das, was ſie kuͤnftig daran zu knuͤpfen gedenkt: ſie berechnet alſo ihren Vor- rath, den ſie geſammlet, oder noch zu ſammlen gedenkt: und ſo wird ſie eine Kraft unverruckt zu ſammlen. Solch eine Kette gehet bis an den Tod fort. Gleichſam nie der ganze Menſch: immer in Entwiklung, im Fortgange, in Ver- vollkommung. Eine Wuͤrkſamkeit hebt ſich durch die andre: eine baut auf die andre: eine entwi- ckelt ſich aus der andren. Es werden Lebensalter, Epochen, die wir nur nach den Stuffen der Merk- lichkeit benennen, die aber, weil der Menſch nie fuͤhlt, wie er waͤchſet: ſondern nur immer wie er gewachſen iſt, ſich in ein unendlich kleines theilen laſſen. Wir wachſen immer aus einer Kindheit, ſo alt wir ſeyn moͤgen, ſind immer im Gange, un- ruhig, ungeſaͤttigt: Das Weſentliche unſers Le- bens iſt nie Genuß ſondern immer Progreßion, und wir ſind nie Menſchen geweſen, bis wir — zu Ende gelebt haben; dahingegen die Biene, Biene war, als ſie ihre erſte Zelle bauete. Zu allen Zeiten wuͤrkt freilich dies Geſetz der Vervoll- kommung, der Progreßion durch Beſonnenheit, nicht K 4

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/157>, abgerufen am 21.11.2024.