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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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er genießen? -- Sinne, Geruch, Witterung für
die Kräuter, die ihm gesund; Abneigung für die,
so ihm schädlich sind, hat die Natur ihm nicht ge-
geben; er muß also versuchen, schmecken, wie die
Europäer in Amerika den Thieren absehen, was
eßbar sey? -- Sich also Merkmale der Kräuter,
mithin Sprache sammlen! Er hat nicht Stärke
genug, um dem Löwen zu begegnen; er entweiche
also ferne von ihm, kenne ihn von fern an seinem
Schalle, und um ihm menschlich und mit Bedacht
entweichen zu können, lerne ihn und hundert an-
dre schädliche Thiere deutlich erkennen, mithin sie
nennen! Je mehr er nun Erfahrungen sammlet,
verschiedne Dinge und von verschiednen Sei-
ten
kennen lernt, desto reicher wird seine Spra-
che! Je öfter er diese Erfahrungen siehet und die
Merkmale bei sich wiederholet, desto fester und
geläufiger wird seine Sprache. Je mehr er un-
terscheidet
und unter einander ordnet, desto
ordentlicher wird seine Sprache! Dies Jahre
durch, in einem muntern Leben, in steten Abwech-
selungen, in beständigem Kampf, mit Schwürig-
keiten und Nothdurft, mit beständiger Neuheit der

Gegen-

er genießen? — Sinne, Geruch, Witterung fuͤr
die Kraͤuter, die ihm geſund; Abneigung fuͤr die,
ſo ihm ſchaͤdlich ſind, hat die Natur ihm nicht ge-
geben; er muß alſo verſuchen, ſchmecken, wie die
Europaͤer in Amerika den Thieren abſehen, was
eßbar ſey? — Sich alſo Merkmale der Kraͤuter,
mithin Sprache ſammlen! Er hat nicht Staͤrke
genug, um dem Loͤwen zu begegnen; er entweiche
alſo ferne von ihm, kenne ihn von fern an ſeinem
Schalle, und um ihm menſchlich und mit Bedacht
entweichen zu koͤnnen, lerne ihn und hundert an-
dre ſchaͤdliche Thiere deutlich erkennen, mithin ſie
nennen! Je mehr er nun Erfahrungen ſammlet,
verſchiedne Dinge und von verſchiednen Sei-
ten
kennen lernt, deſto reicher wird ſeine Spra-
che! Je oͤfter er dieſe Erfahrungen ſiehet und die
Merkmale bei ſich wiederholet, deſto feſter und
gelaͤufiger wird ſeine Sprache. Je mehr er un-
terſcheidet
und unter einander ordnet, deſto
ordentlicher wird ſeine Sprache! Dies Jahre
durch, in einem muntern Leben, in ſteten Abwech-
ſelungen, in beſtaͤndigem Kampf, mit Schwuͤrig-
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[156/0162] er genießen? — Sinne, Geruch, Witterung fuͤr die Kraͤuter, die ihm geſund; Abneigung fuͤr die, ſo ihm ſchaͤdlich ſind, hat die Natur ihm nicht ge- geben; er muß alſo verſuchen, ſchmecken, wie die Europaͤer in Amerika den Thieren abſehen, was eßbar ſey? — Sich alſo Merkmale der Kraͤuter, mithin Sprache ſammlen! Er hat nicht Staͤrke genug, um dem Loͤwen zu begegnen; er entweiche alſo ferne von ihm, kenne ihn von fern an ſeinem Schalle, und um ihm menſchlich und mit Bedacht entweichen zu koͤnnen, lerne ihn und hundert an- dre ſchaͤdliche Thiere deutlich erkennen, mithin ſie nennen! Je mehr er nun Erfahrungen ſammlet, verſchiedne Dinge und von verſchiednen Sei- ten kennen lernt, deſto reicher wird ſeine Spra- che! Je oͤfter er dieſe Erfahrungen ſiehet und die Merkmale bei ſich wiederholet, deſto feſter und gelaͤufiger wird ſeine Sprache. Je mehr er un- terſcheidet und unter einander ordnet, deſto ordentlicher wird ſeine Sprache! Dies Jahre durch, in einem muntern Leben, in ſteten Abwech- ſelungen, in beſtaͤndigem Kampf, mit Schwuͤrig- keiten und Nothdurft, mit beſtaͤndiger Neuheit der Gegen-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/162>, abgerufen am 21.11.2024.