Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

stärksten würken! Die Mutter hat sich der Frucht,
die ihr so viel Ungemach machte, endlich mit
Schmerzen entledigt: kommts blos auf Vergnü-
gen und neue Wollust an: so wirft sie sie weg.
Der Vater hat in wenigen Minuten seine Brunst
gekühlet -- was soll er sich weiter um Mutter und
Kind, als Gegenstände seiner Mühe, beküm-
mern: er läuft wie Rousseaus Mannthier, in
den Wald und sucht sich einen andern Gegenstand
seines thierischen Vergnügens. Wie ganz um-
gekehrt ist hier die Ordnung der Natur, bei Thie-
ren und Menschen und wie weiser. Eben die
Schmerzen und Ungemächlichkeiten vermehren die
mütterliche Liebe! eben das Bejammerns- und nicht
Liebenswürdige des Säuglings, das Schwache,
Hinfällige seines Temperaments, die beschwerliche,
verdrießliche Mühe der Erziehung verdoppelt die
Regungen seiner Eltern! die Mutter sieht den
Sohn mit wärmerer Wallung an, der ihr die
meisten Schmerzen gekostet, der ihr am öfter-
sten mit seinem Abschiede gedrohet, auf den ihre
meisten Zähren des Kummers flossen. Der Va-
ter sieht den Sohn mit wärmerer Wallung an,

den

ſtaͤrkſten wuͤrken! Die Mutter hat ſich der Frucht,
die ihr ſo viel Ungemach machte, endlich mit
Schmerzen entledigt: kommts blos auf Vergnuͤ-
gen und neue Wolluſt an: ſo wirft ſie ſie weg.
Der Vater hat in wenigen Minuten ſeine Brunſt
gekuͤhlet — was ſoll er ſich weiter um Mutter und
Kind, als Gegenſtaͤnde ſeiner Muͤhe, bekuͤm-
mern: er laͤuft wie Rouſſeaus Mannthier, in
den Wald und ſucht ſich einen andern Gegenſtand
ſeines thieriſchen Vergnuͤgens. Wie ganz um-
gekehrt iſt hier die Ordnung der Natur, bei Thie-
ren und Menſchen und wie weiſer. Eben die
Schmerzen und Ungemaͤchlichkeiten vermehren die
muͤtterliche Liebe! eben das Bejammerns- und nicht
Liebenswuͤrdige des Saͤuglings, das Schwache,
Hinfaͤllige ſeines Temperaments, die beſchwerliche,
verdrießliche Muͤhe der Erziehung verdoppelt die
Regungen ſeiner Eltern! die Mutter ſieht den
Sohn mit waͤrmerer Wallung an, der ihr die
meiſten Schmerzen gekoſtet, der ihr am oͤfter-
ſten mit ſeinem Abſchiede gedrohet, auf den ihre
meiſten Zaͤhren des Kummers floſſen. Der Va-
ter ſieht den Sohn mit waͤrmerer Wallung an,

den
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0179" n="173"/>
&#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten <hi rendition="#fr">wu&#x0364;rken!</hi> Die Mutter hat &#x017F;ich der Frucht,<lb/>
die ihr &#x017F;o viel Ungemach machte, endlich mit<lb/>
Schmerzen entledigt: kommts blos auf Vergnu&#x0364;-<lb/>
gen und neue Wollu&#x017F;t an: &#x017F;o wirft &#x017F;ie &#x017F;ie weg.<lb/>
Der Vater hat in wenigen Minuten &#x017F;eine Brun&#x017F;t<lb/>
geku&#x0364;hlet &#x2014; was &#x017F;oll er &#x017F;ich weiter um Mutter und<lb/>
Kind, als Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde &#x017F;einer <hi rendition="#fr">Mu&#x0364;he,</hi> beku&#x0364;m-<lb/>
mern: er la&#x0364;uft wie <hi rendition="#fr">Rou&#x017F;&#x017F;eaus</hi> Mannthier, in<lb/>
den Wald und &#x017F;ucht &#x017F;ich einen andern Gegen&#x017F;tand<lb/>
&#x017F;eines thieri&#x017F;chen <hi rendition="#fr">Vergnu&#x0364;gens.</hi> Wie ganz um-<lb/>
gekehrt i&#x017F;t hier die Ordnung der Natur, bei Thie-<lb/>
ren und Men&#x017F;chen und wie wei&#x017F;er. Eben die<lb/>
Schmerzen und Ungema&#x0364;chlichkeiten vermehren die<lb/>
mu&#x0364;tterliche Liebe! eben das Bejammerns- und nicht<lb/>
Liebenswu&#x0364;rdige des Sa&#x0364;uglings, das Schwache,<lb/>
Hinfa&#x0364;llige &#x017F;eines Temperaments, die be&#x017F;chwerliche,<lb/>
verdrießliche Mu&#x0364;he der Erziehung verdoppelt die<lb/>
Regungen &#x017F;einer Eltern! die Mutter &#x017F;ieht den<lb/>
Sohn mit wa&#x0364;rmerer Wallung an, der ihr die<lb/>
mei&#x017F;ten Schmerzen geko&#x017F;tet, der ihr am o&#x0364;fter-<lb/>
&#x017F;ten mit &#x017F;einem Ab&#x017F;chiede gedrohet, auf den ihre<lb/>
mei&#x017F;ten Za&#x0364;hren des Kummers flo&#x017F;&#x017F;en. Der Va-<lb/>
ter &#x017F;ieht den Sohn mit wa&#x0364;rmerer Wallung an,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[173/0179] ſtaͤrkſten wuͤrken! Die Mutter hat ſich der Frucht, die ihr ſo viel Ungemach machte, endlich mit Schmerzen entledigt: kommts blos auf Vergnuͤ- gen und neue Wolluſt an: ſo wirft ſie ſie weg. Der Vater hat in wenigen Minuten ſeine Brunſt gekuͤhlet — was ſoll er ſich weiter um Mutter und Kind, als Gegenſtaͤnde ſeiner Muͤhe, bekuͤm- mern: er laͤuft wie Rouſſeaus Mannthier, in den Wald und ſucht ſich einen andern Gegenſtand ſeines thieriſchen Vergnuͤgens. Wie ganz um- gekehrt iſt hier die Ordnung der Natur, bei Thie- ren und Menſchen und wie weiſer. Eben die Schmerzen und Ungemaͤchlichkeiten vermehren die muͤtterliche Liebe! eben das Bejammerns- und nicht Liebenswuͤrdige des Saͤuglings, das Schwache, Hinfaͤllige ſeines Temperaments, die beſchwerliche, verdrießliche Muͤhe der Erziehung verdoppelt die Regungen ſeiner Eltern! die Mutter ſieht den Sohn mit waͤrmerer Wallung an, der ihr die meiſten Schmerzen gekoſtet, der ihr am oͤfter- ſten mit ſeinem Abſchiede gedrohet, auf den ihre meiſten Zaͤhren des Kummers floſſen. Der Va- ter ſieht den Sohn mit waͤrmerer Wallung an, den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/179
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/179>, abgerufen am 24.11.2024.