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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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Kehle hinaufholet, und der Halbgrieche, der Jta-
liener, der gleichsam in einer höhern Gegend des
Mundes, in einem feinern Aether spricht, behält
immer noch lebendigen Ton. Seine Laute müssen
innerhalb der Organe bleiben, wo sie gebildet wor-
den: als gemahlte Buchstaben sind sie, so bequem
und einartig sie der lange Schriftgebrauch gemacht
habe, immer nur Schatten!

Das Faktum ist also falsch, und der Schluß
noch falscher: er kommt nicht auf einen göttlichen,
sondern gerad umgekehrt, auf einen thierischen Ur-
sprung. Nehmet die so genannte göttliche erste
Sprache, die hebräische, von der der größte Theil
der Welt, die Buchstaben geerbet: daß sie in
ihrem Anfange so lebendigtönend, so unschreibbar
gewesen, daß sie nur sehr unvollkommen geschrie-
ben werden konnte, -- dies zeigt offenbar der ganze
Bau ihrer Grammatik, ihre so vielfachen Verwech-
selungen ähnlicher Buchstaben, ja am allermeisten
der völlige Mangel ihrer Vokale. Woher kommt
die Sonderbarkeit, daß ihre Buchstaben nur Mit-
lauter sind, und daß eben die Elemente der Worte,
auf die alles ankommt, die Selbstlauter, ursprüng-

lich

Kehle hinaufholet, und der Halbgrieche, der Jta-
liener, der gleichſam in einer hoͤhern Gegend des
Mundes, in einem feinern Aether ſpricht, behaͤlt
immer noch lebendigen Ton. Seine Laute muͤſſen
innerhalb der Organe bleiben, wo ſie gebildet wor-
den: als gemahlte Buchſtaben ſind ſie, ſo bequem
und einartig ſie der lange Schriftgebrauch gemacht
habe, immer nur Schatten!

Das Faktum iſt alſo falſch, und der Schluß
noch falſcher: er kommt nicht auf einen goͤttlichen,
ſondern gerad umgekehrt, auf einen thieriſchen Ur-
ſprung. Nehmet die ſo genannte goͤttliche erſte
Sprache, die hebraͤiſche, von der der groͤßte Theil
der Welt, die Buchſtaben geerbet: daß ſie in
ihrem Anfange ſo lebendigtoͤnend, ſo unſchreibbar
geweſen, daß ſie nur ſehr unvollkommen geſchrie-
ben werden konnte, — dies zeigt offenbar der ganze
Bau ihrer Grammatik, ihre ſo vielfachen Verwech-
ſelungen aͤhnlicher Buchſtaben, ja am allermeiſten
der voͤllige Mangel ihrer Vokale. Woher kommt
die Sonderbarkeit, daß ihre Buchſtaben nur Mit-
lauter ſind, und daß eben die Elemente der Worte,
auf die alles ankommt, die Selbſtlauter, urſpruͤng-

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[16/0022] Kehle hinaufholet, und der Halbgrieche, der Jta- liener, der gleichſam in einer hoͤhern Gegend des Mundes, in einem feinern Aether ſpricht, behaͤlt immer noch lebendigen Ton. Seine Laute muͤſſen innerhalb der Organe bleiben, wo ſie gebildet wor- den: als gemahlte Buchſtaben ſind ſie, ſo bequem und einartig ſie der lange Schriftgebrauch gemacht habe, immer nur Schatten! Das Faktum iſt alſo falſch, und der Schluß noch falſcher: er kommt nicht auf einen goͤttlichen, ſondern gerad umgekehrt, auf einen thieriſchen Ur- ſprung. Nehmet die ſo genannte goͤttliche erſte Sprache, die hebraͤiſche, von der der groͤßte Theil der Welt, die Buchſtaben geerbet: daß ſie in ihrem Anfange ſo lebendigtoͤnend, ſo unſchreibbar geweſen, daß ſie nur ſehr unvollkommen geſchrie- ben werden konnte, — dies zeigt offenbar der ganze Bau ihrer Grammatik, ihre ſo vielfachen Verwech- ſelungen aͤhnlicher Buchſtaben, ja am allermeiſten der voͤllige Mangel ihrer Vokale. Woher kommt die Sonderbarkeit, daß ihre Buchſtaben nur Mit- lauter ſind, und daß eben die Elemente der Worte, auf die alles ankommt, die Selbſtlauter, urſpruͤng- lich

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/22>, abgerufen am 23.11.2024.