Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

Da nun die meisten Verfechter der menschli-
chen Sprachwerdung aus einem so unsichern Ort
stritten, den andre, z. E. Süßmilch, mit so vie-
lem Grunde bekämpften: So hat die Akademie
diese Frage, die also noch ganz unbeantwortet ist,
und über die sich selbst einige ihrer gewesnen Mit-
glieder getheilt, einmal außer Streit wollen ge-
sezt sehen.

Und da dies große Thema so viel Aussichten
in die Psychologie und Naturordnung des mensch-
lichen Geschlechts, in die Philosophie der Spra-
chen und aller Känntnisse, die mit Sprache erfun-
den werden, verspricht -- Wer wollte sich nicht
daran versuchen?

Und da die Menschen für uns die einzigen
Sprachgeschöpfe sind, die wir kennen, und sich eben
durch Sprache von allen Thieren unterscheiden:
wo finge der Weg der Untersuchung sicherer an,
als bei Erfahrungen über den Unterschied der Thiere
und Menschen? -- Condillac und Rousseau
mußten über den Sprachursprung irren, weil sie
sich über diesen Unterschied so bekannt und verschie-

den

Da nun die meiſten Verfechter der menſchli-
chen Sprachwerdung aus einem ſo unſichern Ort
ſtritten, den andre, z. E. Suͤßmilch, mit ſo vie-
lem Grunde bekaͤmpften: So hat die Akademie
dieſe Frage, die alſo noch ganz unbeantwortet iſt,
und uͤber die ſich ſelbſt einige ihrer geweſnen Mit-
glieder getheilt, einmal außer Streit wollen ge-
ſezt ſehen.

Und da dies große Thema ſo viel Ausſichten
in die Pſychologie und Naturordnung des menſch-
lichen Geſchlechts, in die Philoſophie der Spra-
chen und aller Kaͤnntniſſe, die mit Sprache erfun-
den werden, verſpricht — Wer wollte ſich nicht
daran verſuchen?

Und da die Menſchen fuͤr uns die einzigen
Sprachgeſchoͤpfe ſind, die wir kennen, und ſich eben
durch Sprache von allen Thieren unterſcheiden:
wo finge der Weg der Unterſuchung ſicherer an,
als bei Erfahrungen uͤber den Unterſchied der Thiere
und Menſchen? — Condillac und Rouſſeau
mußten uͤber den Sprachurſprung irren, weil ſie
ſich uͤber dieſen Unterſchied ſo bekannt und verſchie-

den
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0036" n="30"/>
          <p>Da nun die mei&#x017F;ten Verfechter der men&#x017F;chli-<lb/>
chen Sprachwerdung aus einem &#x017F;o un&#x017F;ichern Ort<lb/>
&#x017F;tritten, den andre, z. E. <hi rendition="#fr">Su&#x0364;ßmilch,</hi> mit &#x017F;o vie-<lb/>
lem Grunde beka&#x0364;mpften: So hat die <hi rendition="#fr">Akademie</hi><lb/>
die&#x017F;e Frage, die al&#x017F;o noch ganz unbeantwortet i&#x017F;t,<lb/>
und u&#x0364;ber die &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t einige ihrer gewe&#x017F;nen Mit-<lb/>
glieder getheilt, einmal außer Streit wollen ge-<lb/>
&#x017F;ezt &#x017F;ehen.</p><lb/>
          <p>Und da dies große Thema &#x017F;o viel Aus&#x017F;ichten<lb/>
in die P&#x017F;ychologie und Naturordnung des men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Ge&#x017F;chlechts, in die Philo&#x017F;ophie der Spra-<lb/>
chen und aller Ka&#x0364;nntni&#x017F;&#x017F;e, die mit Sprache erfun-<lb/>
den werden, ver&#x017F;pricht &#x2014; Wer wollte &#x017F;ich nicht<lb/>
daran ver&#x017F;uchen?</p><lb/>
          <p>Und da die Men&#x017F;chen fu&#x0364;r uns die einzigen<lb/>
Sprachge&#x017F;cho&#x0364;pfe &#x017F;ind, die wir kennen, und &#x017F;ich eben<lb/>
durch Sprache von allen Thieren unter&#x017F;cheiden:<lb/>
wo finge der Weg der Unter&#x017F;uchung &#x017F;icherer an,<lb/>
als bei Erfahrungen u&#x0364;ber den Unter&#x017F;chied der Thiere<lb/>
und Men&#x017F;chen? &#x2014; <hi rendition="#fr">Condillac</hi> und <hi rendition="#fr">Rou&#x017F;&#x017F;eau</hi><lb/>
mußten u&#x0364;ber den Sprachur&#x017F;prung irren, weil &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich u&#x0364;ber die&#x017F;en Unter&#x017F;chied &#x017F;o bekannt und ver&#x017F;chie-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0036] Da nun die meiſten Verfechter der menſchli- chen Sprachwerdung aus einem ſo unſichern Ort ſtritten, den andre, z. E. Suͤßmilch, mit ſo vie- lem Grunde bekaͤmpften: So hat die Akademie dieſe Frage, die alſo noch ganz unbeantwortet iſt, und uͤber die ſich ſelbſt einige ihrer geweſnen Mit- glieder getheilt, einmal außer Streit wollen ge- ſezt ſehen. Und da dies große Thema ſo viel Ausſichten in die Pſychologie und Naturordnung des menſch- lichen Geſchlechts, in die Philoſophie der Spra- chen und aller Kaͤnntniſſe, die mit Sprache erfun- den werden, verſpricht — Wer wollte ſich nicht daran verſuchen? Und da die Menſchen fuͤr uns die einzigen Sprachgeſchoͤpfe ſind, die wir kennen, und ſich eben durch Sprache von allen Thieren unterſcheiden: wo finge der Weg der Unterſuchung ſicherer an, als bei Erfahrungen uͤber den Unterſchied der Thiere und Menſchen? — Condillac und Rouſſeau mußten uͤber den Sprachurſprung irren, weil ſie ſich uͤber dieſen Unterſchied ſo bekannt und verſchie- den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/36
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/36>, abgerufen am 21.11.2024.