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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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wurde alles menschlich, zu Weib und Mann per-
sonificirt: überall Götter, Göttinnen, handelnde,
bösartige oder gute Wesen! der brausende Sturm,
und der süße Zephyr, die klare Wasserquelle und
der mächtige Ocean -- ihre ganze Mythologie liegt
in den Fundgruben, den Verbis und Nominibus
der alten Sprachen und das älteste Wörterbuch
war so ein tönendes Pantheon, ein Versammlungs-
saal beider Geschlechter, als den Sinnen des ersten
Erfinders die Natur. Hier ist die Sprache jener
alten Wilden ein Studium in den Jrrgängen
menschlicher Phantasie und Leidenschaften, wie
ihre Mythologie. Jede Familie von Wörtern
ist ein verwachsnes Gebüsche um eine sinnliche
Hauptidee, um eine heilige Eiche, auf der noch
Spuren sind, welchen Eindruck der Erfinder von
dieser Dryade hatte. Die Gefühle sind ihm zu-
sammengewebt: was sich beweget, lebt: was da
tönet, spricht -- und da es für oder wieder dich
tönt, so ists Freund, oder Feind: Gott oder Göt-
tinn: es handelt aus Leidenschaften, wie du!

Ein menschliches, sinnliches Geschöpf liebe ich
über diese Denkart: ich sehe überall den schwachen,

schüch-

wurde alles menſchlich, zu Weib und Mann per-
ſonificirt: uͤberall Goͤtter, Goͤttinnen, handelnde,
boͤsartige oder gute Weſen! der brauſende Sturm,
und der ſuͤße Zephyr, die klare Waſſerquelle und
der maͤchtige Ocean — ihre ganze Mythologie liegt
in den Fundgruben, den Verbis und Nominibus
der alten Sprachen und das aͤlteſte Woͤrterbuch
war ſo ein toͤnendes Pantheon, ein Verſammlungs-
ſaal beider Geſchlechter, als den Sinnen des erſten
Erfinders die Natur. Hier iſt die Sprache jener
alten Wilden ein Studium in den Jrrgaͤngen
menſchlicher Phantaſie und Leidenſchaften, wie
ihre Mythologie. Jede Familie von Woͤrtern
iſt ein verwachſnes Gebuͤſche um eine ſinnliche
Hauptidee, um eine heilige Eiche, auf der noch
Spuren ſind, welchen Eindruck der Erfinder von
dieſer Dryade hatte. Die Gefuͤhle ſind ihm zu-
ſammengewebt: was ſich beweget, lebt: was da
toͤnet, ſpricht — und da es fuͤr oder wieder dich
toͤnt, ſo iſts Freund, oder Feind: Gott oder Goͤt-
tinn: es handelt aus Leidenſchaften, wie du!

Ein menſchliches, ſinnliches Geſchoͤpf liebe ich
uͤber dieſe Denkart: ich ſehe uͤberall den ſchwachen,

ſchuͤch-
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[84/0090] wurde alles menſchlich, zu Weib und Mann per- ſonificirt: uͤberall Goͤtter, Goͤttinnen, handelnde, boͤsartige oder gute Weſen! der brauſende Sturm, und der ſuͤße Zephyr, die klare Waſſerquelle und der maͤchtige Ocean — ihre ganze Mythologie liegt in den Fundgruben, den Verbis und Nominibus der alten Sprachen und das aͤlteſte Woͤrterbuch war ſo ein toͤnendes Pantheon, ein Verſammlungs- ſaal beider Geſchlechter, als den Sinnen des erſten Erfinders die Natur. Hier iſt die Sprache jener alten Wilden ein Studium in den Jrrgaͤngen menſchlicher Phantaſie und Leidenſchaften, wie ihre Mythologie. Jede Familie von Woͤrtern iſt ein verwachſnes Gebuͤſche um eine ſinnliche Hauptidee, um eine heilige Eiche, auf der noch Spuren ſind, welchen Eindruck der Erfinder von dieſer Dryade hatte. Die Gefuͤhle ſind ihm zu- ſammengewebt: was ſich beweget, lebt: was da toͤnet, ſpricht — und da es fuͤr oder wieder dich toͤnt, ſo iſts Freund, oder Feind: Gott oder Goͤt- tinn: es handelt aus Leidenſchaften, wie du! Ein menſchliches, ſinnliches Geſchoͤpf liebe ich uͤber dieſe Denkart: ich ſehe uͤberall den ſchwachen, ſchuͤch-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/90>, abgerufen am 27.11.2024.