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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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schüchternen Empfindsamen, der lieben, oder has-
sen, trauen oder fürchten muß, und diese Empfin-
dungen aus seiner Brust über alle Wesen ausbrei-
ten möchte. Jch sehe überall das schwache und
doch mächtige Geschöpf, das das ganze Weltall
nöthig hat, und alles mit sich in Krieg und Frie-
den verwickelt; das von allem abhängt, und doch
über alles herrschet -- -- Die Dichtung, und
die Geschlechterschaffung der Sprache, sind also
Jnteresse der Menschheit, und die Genetalien der
Rede gleichsam das Mittel ihrer Fortpflanzung.
Aber nun -- wenn sie ein höherer Genius aus den
Sternen hinunter gebracht -- wie? würde dieser
Genius aus den Sternen auf unserer Erde unter
dem Monde in solche Leidenschaften von Liebe und
Schwachheit, von Haß und Furcht verwickelt?
daß er alles in Zuneigung und Haß verflocht, daß
er alle Worte mit Furcht und Freude bezeichnete,
daß er endlich alles auf Begattungen bauete?
Sahe und fühlte er, wie ein Mensch siehet, daß
sich ihm die Nomina in Geschlechter und Artikel
paaren mußten, daß er die Verba thätig und lei-
dend zusammen gab, ihnen so viel ächte und Dop-

pelkinder

ſchuͤchternen Empfindſamen, der lieben, oder haſ-
ſen, trauen oder fuͤrchten muß, und dieſe Empfin-
dungen aus ſeiner Bruſt uͤber alle Weſen ausbrei-
ten moͤchte. Jch ſehe uͤberall das ſchwache und
doch maͤchtige Geſchoͤpf, das das ganze Weltall
noͤthig hat, und alles mit ſich in Krieg und Frie-
den verwickelt; das von allem abhaͤngt, und doch
uͤber alles herrſchet — — Die Dichtung, und
die Geſchlechterſchaffung der Sprache, ſind alſo
Jntereſſe der Menſchheit, und die Genetalien der
Rede gleichſam das Mittel ihrer Fortpflanzung.
Aber nun — wenn ſie ein hoͤherer Genius aus den
Sternen hinunter gebracht — wie? wuͤrde dieſer
Genius aus den Sternen auf unſerer Erde unter
dem Monde in ſolche Leidenſchaften von Liebe und
Schwachheit, von Haß und Furcht verwickelt?
daß er alles in Zuneigung und Haß verflocht, daß
er alle Worte mit Furcht und Freude bezeichnete,
daß er endlich alles auf Begattungen bauete?
Sahe und fuͤhlte er, wie ein Menſch ſiehet, daß
ſich ihm die Nomina in Geſchlechter und Artikel
paaren mußten, daß er die Verba thaͤtig und lei-
dend zuſammen gab, ihnen ſo viel aͤchte und Dop-

pelkinder
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[85/0091] ſchuͤchternen Empfindſamen, der lieben, oder haſ- ſen, trauen oder fuͤrchten muß, und dieſe Empfin- dungen aus ſeiner Bruſt uͤber alle Weſen ausbrei- ten moͤchte. Jch ſehe uͤberall das ſchwache und doch maͤchtige Geſchoͤpf, das das ganze Weltall noͤthig hat, und alles mit ſich in Krieg und Frie- den verwickelt; das von allem abhaͤngt, und doch uͤber alles herrſchet — — Die Dichtung, und die Geſchlechterſchaffung der Sprache, ſind alſo Jntereſſe der Menſchheit, und die Genetalien der Rede gleichſam das Mittel ihrer Fortpflanzung. Aber nun — wenn ſie ein hoͤherer Genius aus den Sternen hinunter gebracht — wie? wuͤrde dieſer Genius aus den Sternen auf unſerer Erde unter dem Monde in ſolche Leidenſchaften von Liebe und Schwachheit, von Haß und Furcht verwickelt? daß er alles in Zuneigung und Haß verflocht, daß er alle Worte mit Furcht und Freude bezeichnete, daß er endlich alles auf Begattungen bauete? Sahe und fuͤhlte er, wie ein Menſch ſiehet, daß ſich ihm die Nomina in Geſchlechter und Artikel paaren mußten, daß er die Verba thaͤtig und lei- dend zuſammen gab, ihnen ſo viel aͤchte und Dop- pelkinder

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/91>, abgerufen am 27.11.2024.