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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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möglich, (wie auch Leibnitz* auf den Gedanken
gekommen!) Aber für die ersten Naturmenschen
war diese Sprache nicht möglich, so künstlich und
fein ist sie. Jn der Reihe der Wesen hat jedes
Ding seine Stimme und eine Sprache nach sei-
ner Stimme. Die Sprache der Liebe ist im Nest
der Nachtigall süßer Gesang, wie in der Höle des
Löwen Gebrüll: im Forste des Wildes wiehernde
Brunst, und im Winkel der Katze Zettergeschrei;
jede Gattung redet die ihrige, nicht für den Men-
schen, sondern für sich, und für sich so angenehm
als Petrarchs Gesang an seine Laura! So wenig
also die Nachtigall singt, um den Menschen, wie
man sich einbildet, vorzusingen: so wenig wird
der Mensch sich dadurch je Sprache erfinden wol-
len, daß er der Nachtigall nachtrillert -- Und
was ists doch für ein Ungeheuer, eine menschliche
Nachtigall in einer Höle, oder im Walde der
Jagd? --

War also die erste Menschensprache Gesang:
so wars Gesang, der ihm so natürlich, seinen Or-

ganen,
* Oeuvres philosophiques publiees p. Raspe p. 232.
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moͤglich, (wie auch Leibnitz* auf den Gedanken
gekommen!) Aber fuͤr die erſten Naturmenſchen
war dieſe Sprache nicht moͤglich, ſo kuͤnſtlich und
fein iſt ſie. Jn der Reihe der Weſen hat jedes
Ding ſeine Stimme und eine Sprache nach ſei-
ner Stimme. Die Sprache der Liebe iſt im Neſt
der Nachtigall ſuͤßer Geſang, wie in der Hoͤle des
Loͤwen Gebruͤll: im Forſte des Wildes wiehernde
Brunſt, und im Winkel der Katze Zettergeſchrei;
jede Gattung redet die ihrige, nicht fuͤr den Men-
ſchen, ſondern fuͤr ſich, und fuͤr ſich ſo angenehm
als Petrarchs Geſang an ſeine Laura! So wenig
alſo die Nachtigall ſingt, um den Menſchen, wie
man ſich einbildet, vorzuſingen: ſo wenig wird
der Menſch ſich dadurch je Sprache erfinden wol-
len, daß er der Nachtigall nachtrillert — Und
was iſts doch fuͤr ein Ungeheuer, eine menſchliche
Nachtigall in einer Hoͤle, oder im Walde der
Jagd? —

War alſo die erſte Menſchenſprache Geſang:
ſo wars Geſang, der ihm ſo natuͤrlich, ſeinen Or-

ganen,
* Oeuvres philoſophiques publiées p. Raſpe p. 232.
F 5
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[89/0095] moͤglich, (wie auch Leibnitz * auf den Gedanken gekommen!) Aber fuͤr die erſten Naturmenſchen war dieſe Sprache nicht moͤglich, ſo kuͤnſtlich und fein iſt ſie. Jn der Reihe der Weſen hat jedes Ding ſeine Stimme und eine Sprache nach ſei- ner Stimme. Die Sprache der Liebe iſt im Neſt der Nachtigall ſuͤßer Geſang, wie in der Hoͤle des Loͤwen Gebruͤll: im Forſte des Wildes wiehernde Brunſt, und im Winkel der Katze Zettergeſchrei; jede Gattung redet die ihrige, nicht fuͤr den Men- ſchen, ſondern fuͤr ſich, und fuͤr ſich ſo angenehm als Petrarchs Geſang an ſeine Laura! So wenig alſo die Nachtigall ſingt, um den Menſchen, wie man ſich einbildet, vorzuſingen: ſo wenig wird der Menſch ſich dadurch je Sprache erfinden wol- len, daß er der Nachtigall nachtrillert — Und was iſts doch fuͤr ein Ungeheuer, eine menſchliche Nachtigall in einer Hoͤle, oder im Walde der Jagd? — War alſo die erſte Menſchenſprache Geſang: ſo wars Geſang, der ihm ſo natuͤrlich, ſeinen Or- ganen, * Oeuvres philoſophiques publiées p. Raſpe p. 232. F 5

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/95>, abgerufen am 28.11.2024.