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Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435.

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sre Dichtkunst und klassische Bildung ist vom Himmel geregnet. Als man im vorigen Jahrhunderte Sprache und Dichtkunst zu bilden anfing - im vorigen Jahrhunderte? und was hätte man denn wohl mehr thun können, wenns Zweck gewesen wäre, die lezten Züge von Nazionalgeist wirklich auszurotten, als man heuer und izt wirklich gethan hat? Und izt, da wir uns schon auf so hohem Gipfel der Verehrung andrer Völker wähnen, izt da uns die Franzosen, die wir so lang nachgeahmt haben, Gott Lob und Dank! wieder nachahmen und ihren eignen Unrath fressen: izt, da wir das Glück geniessen, daß deutsche Höfe schon anfangen, deutsch zu buchstabiren und ein paar deutsche Namen zu nennen - Himmel, was sind wir nun für Leute! Wer sich nun noch ums rohe Volk bekümmern wollte, um ihre Grundsuppe von Mährchen, Vorurtheilen, Liedern, rauher Sprache: welch ein Barbar wäre er! er käme, unsre klassische, sylbenzählende Litteratur zu beschmizen, wie eine Nachteule unter die schönen, buntgekleideten, singenden Gefieder! -

Und doch bleibts immer und ewig, daß der Theil von Litteratur, der sich aufs Volk beziehet, volksmäßig seyn muß, oder er ist klassische Luftblase. Doch bleibts immer und ewig, daß wenn wir kein Volk haben, wir kein Publikum, keine Nazion, keine Sprache und Dichtkunst haben, die unser sey, die in uns lebe und wirke. Da schreiben wir denn nun ewig für Stubengelehrte und ekle Rezensenten, aus deren Munde und Magen wirs denn zurück empfangen, machen Romanzen, Oden, Heldengedichte, Kirchen- und Küchenlieder, wie sie niemand versteht, niemand will, niemand fühlet. Unsre klassische Litteratur ist Paradiesvogel, so bunt, so artig, ganz Flug, ganz Höhe und - ohne Fuß auf die deutsche Erde.

Wie anders hierin andre Nazionen. Welche Lieder hat z.E. Percy in seine Reliques genommen, die ich unserm gebildeten Deutschland nicht vorzuzeigen wagte. Uns wären sie unausstehlich, jenen sind sies nicht. Das sind Einmal alte Nazionalstücke, die das Volk singt, und sang, woraus

sre Dichtkunst und klassische Bildung ist vom Himmel geregnet. Als man im vorigen Jahrhunderte Sprache und Dichtkunst zu bilden anfing – im vorigen Jahrhunderte? und was hätte man denn wohl mehr thun können, wenns Zweck gewesen wäre, die lezten Züge von Nazionalgeist wirklich auszurotten, als man heuer und izt wirklich gethan hat? Und izt, da wir uns schon auf so hohem Gipfel der Verehrung andrer Völker wähnen, izt da uns die Franzosen, die wir so lang nachgeahmt haben, Gott Lob und Dank! wieder nachahmen und ihren eignen Unrath fressen: izt, da wir das Glück geniessen, daß deutsche Höfe schon anfangen, deutsch zu buchstabiren und ein paar deutsche Namen zu nennen – Himmel, was sind wir nun für Leute! Wer sich nun noch ums rohe Volk bekümmern wollte, um ihre Grundsuppe von Mährchen, Vorurtheilen, Liedern, rauher Sprache: welch ein Barbar wäre er! er käme, unsre klassische, sylbenzählende Litteratur zu beschmizen, wie eine Nachteule unter die schönen, buntgekleideten, singenden Gefieder! –

Und doch bleibts immer und ewig, daß der Theil von Litteratur, der sich aufs Volk beziehet, volksmäßig seyn muß, oder er ist klassische Luftblase. Doch bleibts immer und ewig, daß wenn wir kein Volk haben, wir kein Publikum, keine Nazion, keine Sprache und Dichtkunst haben, die unser sey, die in uns lebe und wirke. Da schreiben wir denn nun ewig für Stubengelehrte und ekle Rezensenten, aus deren Munde und Magen wirs denn zurück empfangen, machen Romanzen, Oden, Heldengedichte, Kirchen- und Küchenlieder, wie sie niemand versteht, niemand will, niemand fühlet. Unsre klassische Litteratur ist Paradiesvogel, so bunt, so artig, ganz Flug, ganz Höhe und – ohne Fuß auf die deutsche Erde.

Wie anders hierin andre Nazionen. Welche Lieder hat z.E. Percy in seine Reliques genommen, die ich unserm gebildeten Deutschland nicht vorzuzeigen wagte. Uns wären sie unausstehlich, jenen sind sies nicht. Das sind Einmal alte Nazionalstücke, die das Volk singt, und sang, woraus

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[429/0010] sre Dichtkunst und klassische Bildung ist vom Himmel geregnet. Als man im vorigen Jahrhunderte Sprache und Dichtkunst zu bilden anfing – im vorigen Jahrhunderte? und was hätte man denn wohl mehr thun können, wenns Zweck gewesen wäre, die lezten Züge von Nazionalgeist wirklich auszurotten, als man heuer und izt wirklich gethan hat? Und izt, da wir uns schon auf so hohem Gipfel der Verehrung andrer Völker wähnen, izt da uns die Franzosen, die wir so lang nachgeahmt haben, Gott Lob und Dank! wieder nachahmen und ihren eignen Unrath fressen: izt, da wir das Glück geniessen, daß deutsche Höfe schon anfangen, deutsch zu buchstabiren und ein paar deutsche Namen zu nennen – Himmel, was sind wir nun für Leute! Wer sich nun noch ums rohe Volk bekümmern wollte, um ihre Grundsuppe von Mährchen, Vorurtheilen, Liedern, rauher Sprache: welch ein Barbar wäre er! er käme, unsre klassische, sylbenzählende Litteratur zu beschmizen, wie eine Nachteule unter die schönen, buntgekleideten, singenden Gefieder! – Und doch bleibts immer und ewig, daß der Theil von Litteratur, der sich aufs Volk beziehet, volksmäßig seyn muß, oder er ist klassische Luftblase. Doch bleibts immer und ewig, daß wenn wir kein Volk haben, wir kein Publikum, keine Nazion, keine Sprache und Dichtkunst haben, die unser sey, die in uns lebe und wirke. Da schreiben wir denn nun ewig für Stubengelehrte und ekle Rezensenten, aus deren Munde und Magen wirs denn zurück empfangen, machen Romanzen, Oden, Heldengedichte, Kirchen- und Küchenlieder, wie sie niemand versteht, niemand will, niemand fühlet. Unsre klassische Litteratur ist Paradiesvogel, so bunt, so artig, ganz Flug, ganz Höhe und – ohne Fuß auf die deutsche Erde. Wie anders hierin andre Nazionen. Welche Lieder hat z.E. Percy in seine Reliques genommen, die ich unserm gebildeten Deutschland nicht vorzuzeigen wagte. Uns wären sie unausstehlich, jenen sind sies nicht. Das sind Einmal alte Nazionalstücke, die das Volk singt, und sang, woraus

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435, hier S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777/10>, abgerufen am 18.04.2024.