Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

Bild:
<< vorherige Seite

ihm in den Wurf kommt, und er alles braucht,
und Alles zum traurigen Ende eilet. --
Wenn ein Engel der Vorsehung menschliche
Leidenschaften gegen einander abwog, und
Seelen und Charaktere gruppirte, und ihnen
Anlässe, wo Jedes im Wahn des Freyen
handelt, zuführt, und er sie alle mit diesem
Wahne, als mit der Kette des Schicksals zu
seiner Jdee leitet -- so war der menschliche
Geist, der hier entwarf, sann, zeichnete,
lenkte.

Daß Zeit und Ort, wie Hülsen um den
Kern immer mit gehen sollte nicht einmal er-
innert werden dürfen, und doch ist hierüber
eben das helleste Geschrey. Fand Shakespear
den Göttergriff Eine ganze Welt der dispa-
ratesten Auftritte zu Einer Begebenheit zu
erfassen; natürlich gehörte es eben zur Wahr-
heit seiner Begebenheiten, auch Ort und Zeit
jedesmal zu idealisiren, daß sie mit zur Täu-
schung beytrügen. Jst wohl jemand in der
Welt zu einer Kleinigkeit seines Lebens Ort
und Zeit gleichgültig? und sind sies insonder-
heit in den Dingen, wo die ganze Seele ge-
regt, gebildet, umgebildet wird? in der Ju-
gend, in Scenen der Leidenschaft, in allen
Handlungen aufs Leben! Jsts da nicht eben
Ort und Zeit und Fülle der äussern Umstände,
die der ganzen Geschichte Haltung, Dauer,

Exsi-
G

ihm in den Wurf kommt, und er alles braucht,
und Alles zum traurigen Ende eilet. —
Wenn ein Engel der Vorſehung menſchliche
Leidenſchaften gegen einander abwog, und
Seelen und Charaktere gruppirte, und ihnen
Anlaͤſſe, wo Jedes im Wahn des Freyen
handelt, zufuͤhrt, und er ſie alle mit dieſem
Wahne, als mit der Kette des Schickſals zu
ſeiner Jdee leitet — ſo war der menſchliche
Geiſt, der hier entwarf, ſann, zeichnete,
lenkte.

Daß Zeit und Ort, wie Huͤlſen um den
Kern immer mit gehen ſollte nicht einmal er-
innert werden duͤrfen, und doch iſt hieruͤber
eben das helleſte Geſchrey. Fand Shakeſpear
den Goͤttergriff Eine ganze Welt der diſpa-
rateſten Auftritte zu Einer Begebenheit zu
erfaſſen; natuͤrlich gehoͤrte es eben zur Wahr-
heit ſeiner Begebenheiten, auch Ort und Zeit
jedesmal zu idealiſiren, daß ſie mit zur Taͤu-
ſchung beytruͤgen. Jſt wohl jemand in der
Welt zu einer Kleinigkeit ſeines Lebens Ort
und Zeit gleichguͤltig? und ſind ſies inſonder-
heit in den Dingen, wo die ganze Seele ge-
regt, gebildet, umgebildet wird? in der Ju-
gend, in Scenen der Leidenſchaft, in allen
Handlungen aufs Leben! Jſts da nicht eben
Ort und Zeit und Fuͤlle der aͤuſſern Umſtaͤnde,
die der ganzen Geſchichte Haltung, Dauer,

Exſi-
G
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0101" n="97"/>
ihm in den Wurf kommt, und er alles braucht,<lb/>
und Alles zum traurigen Ende eilet. &#x2014;<lb/>
Wenn ein Engel der Vor&#x017F;ehung men&#x017F;chliche<lb/>
Leiden&#x017F;chaften gegen einander abwog, und<lb/>
Seelen und Charaktere gruppirte, und ihnen<lb/>
Anla&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, wo Jedes im Wahn des Freyen<lb/>
handelt, zufu&#x0364;hrt, und er &#x017F;ie alle mit die&#x017F;em<lb/>
Wahne, als mit der Kette des Schick&#x017F;als zu<lb/>
&#x017F;einer Jdee leitet &#x2014; &#x017F;o war der men&#x017F;chliche<lb/>
Gei&#x017F;t, der hier entwarf, &#x017F;ann, zeichnete,<lb/>
lenkte.</p><lb/>
          <p>Daß Zeit und Ort, wie Hu&#x0364;l&#x017F;en um den<lb/>
Kern immer mit gehen &#x017F;ollte nicht einmal er-<lb/>
innert werden du&#x0364;rfen, und doch i&#x017F;t hieru&#x0364;ber<lb/>
eben das helle&#x017F;te Ge&#x017F;chrey. Fand Shake&#x017F;pear<lb/>
den Go&#x0364;ttergriff Eine ganze Welt der di&#x017F;pa-<lb/>
rate&#x017F;ten Auftritte zu Einer Begebenheit zu<lb/>
erfa&#x017F;&#x017F;en; natu&#x0364;rlich geho&#x0364;rte es eben zur Wahr-<lb/>
heit &#x017F;einer Begebenheiten, auch Ort und Zeit<lb/>
jedesmal zu ideali&#x017F;iren, daß &#x017F;ie mit zur Ta&#x0364;u-<lb/>
&#x017F;chung beytru&#x0364;gen. J&#x017F;t wohl jemand in der<lb/>
Welt zu einer Kleinigkeit &#x017F;eines Lebens Ort<lb/>
und Zeit gleichgu&#x0364;ltig? und &#x017F;ind &#x017F;ies in&#x017F;onder-<lb/>
heit in den Dingen, wo die ganze Seele ge-<lb/>
regt, gebildet, umgebildet wird? in der Ju-<lb/>
gend, in Scenen der Leiden&#x017F;chaft, in allen<lb/>
Handlungen aufs Leben! J&#x017F;ts da nicht eben<lb/>
Ort und Zeit und Fu&#x0364;lle der a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ern Um&#x017F;ta&#x0364;nde,<lb/>
die der ganzen Ge&#x017F;chichte <hi rendition="#fr">Haltung, Dauer,</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">Ex&#x017F;i-</hi></fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[97/0101] ihm in den Wurf kommt, und er alles braucht, und Alles zum traurigen Ende eilet. — Wenn ein Engel der Vorſehung menſchliche Leidenſchaften gegen einander abwog, und Seelen und Charaktere gruppirte, und ihnen Anlaͤſſe, wo Jedes im Wahn des Freyen handelt, zufuͤhrt, und er ſie alle mit dieſem Wahne, als mit der Kette des Schickſals zu ſeiner Jdee leitet — ſo war der menſchliche Geiſt, der hier entwarf, ſann, zeichnete, lenkte. Daß Zeit und Ort, wie Huͤlſen um den Kern immer mit gehen ſollte nicht einmal er- innert werden duͤrfen, und doch iſt hieruͤber eben das helleſte Geſchrey. Fand Shakeſpear den Goͤttergriff Eine ganze Welt der diſpa- rateſten Auftritte zu Einer Begebenheit zu erfaſſen; natuͤrlich gehoͤrte es eben zur Wahr- heit ſeiner Begebenheiten, auch Ort und Zeit jedesmal zu idealiſiren, daß ſie mit zur Taͤu- ſchung beytruͤgen. Jſt wohl jemand in der Welt zu einer Kleinigkeit ſeines Lebens Ort und Zeit gleichguͤltig? und ſind ſies inſonder- heit in den Dingen, wo die ganze Seele ge- regt, gebildet, umgebildet wird? in der Ju- gend, in Scenen der Leidenſchaft, in allen Handlungen aufs Leben! Jſts da nicht eben Ort und Zeit und Fuͤlle der aͤuſſern Umſtaͤnde, die der ganzen Geſchichte Haltung, Dauer, Exſi- G

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/101
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/101>, abgerufen am 24.11.2024.