Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

Bild:
<< vorherige Seite

handelnder müssen auch, wenn es Lieder hat,
seine Lieder seyn! Je entfernter von künstlicher,
wissenschaftlicher Denkart, Sprache und Let-
ternart das Volk ist: desto weniger müssen auch
seine Lieder fürs Papier gemacht, und todte
Lettern Verse seyn: von lyrischen, vom leben-
digen und gleichsam Tanzmäßigen des Gesan-
ges, von lebendiger Gegenwart der Bilder,
vom Zusammenhange und gleichsam Noth-
drange des Jnhalts, der Empfindungen, von
Symmetrie der Worte, der Sylben, bey man-
chen sogar der Buchstaben, vom Gange der
Melodie, und von hundert andern Sachen,
die zur lebendigen Welt, zum Spruch- und Na-
tionalliede gehören, und mit diesem verschwin-
den -- davon, und davon allein hängt das
Wesen, der Zweck, die ganze wunderthätige
Kraft ab, den diese Lieder haben, die Ent-
zückung, die Triebfeder, der ewige Erb- und
Lustgesang des Volks zu seyn! Das sind die
Pfeile dieses wilden Apollo, womit er Herzen
durchbohrt, und woran er Seelen und Gedächt-
nisse heftet! Je länger ein Lied dauren soll,
desto stärker, desto sinnlicher müssen diese See-
lenerwecker seyn, daß sie der Macht der Zeit
und den Veränderungen der Jahrhunderte
trotzen -- wohin wendet sich nun die Sache?

Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie
sie auch in Ossian überall erscheinen, ein wilde-

res

handelnder muͤſſen auch, wenn es Lieder hat,
ſeine Lieder ſeyn! Je entfernter von kuͤnſtlicher,
wiſſenſchaftlicher Denkart, Sprache und Let-
ternart das Volk iſt: deſto weniger muͤſſen auch
ſeine Lieder fuͤrs Papier gemacht, und todte
Lettern Verſe ſeyn: von lyriſchen, vom leben-
digen und gleichſam Tanzmaͤßigen des Geſan-
ges, von lebendiger Gegenwart der Bilder,
vom Zuſammenhange und gleichſam Noth-
drange des Jnhalts, der Empfindungen, von
Symmetrie der Worte, der Sylben, bey man-
chen ſogar der Buchſtaben, vom Gange der
Melodie, und von hundert andern Sachen,
die zur lebendigen Welt, zum Spruch- und Na-
tionalliede gehoͤren, und mit dieſem verſchwin-
den — davon, und davon allein haͤngt das
Weſen, der Zweck, die ganze wunderthaͤtige
Kraft ab, den dieſe Lieder haben, die Ent-
zuͤckung, die Triebfeder, der ewige Erb- und
Luſtgeſang des Volks zu ſeyn! Das ſind die
Pfeile dieſes wilden Apollo, womit er Herzen
durchbohrt, und woran er Seelen und Gedaͤcht-
niſſe heftet! Je laͤnger ein Lied dauren ſoll,
deſto ſtaͤrker, deſto ſinnlicher muͤſſen dieſe See-
lenerwecker ſeyn, daß ſie der Macht der Zeit
und den Veraͤnderungen der Jahrhunderte
trotzen — wohin wendet ſich nun die Sache?

Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie
ſie auch in Oſſian uͤberall erſcheinen, ein wilde-

res
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0016" n="12"/>
handelnder mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en auch, wenn es Lieder hat,<lb/>
&#x017F;eine Lieder &#x017F;eyn! Je entfernter von ku&#x0364;n&#x017F;tlicher,<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlicher Denkart, Sprache und Let-<lb/>
ternart das Volk i&#x017F;t: de&#x017F;to weniger mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en auch<lb/>
&#x017F;eine Lieder fu&#x0364;rs Papier gemacht, und todte<lb/>
Lettern Ver&#x017F;e &#x017F;eyn: von lyri&#x017F;chen, vom leben-<lb/>
digen und gleich&#x017F;am Tanzma&#x0364;ßigen des Ge&#x017F;an-<lb/>
ges, von lebendiger Gegenwart der Bilder,<lb/>
vom Zu&#x017F;ammenhange und gleich&#x017F;am Noth-<lb/>
drange des Jnhalts, der Empfindungen, von<lb/>
Symmetrie der Worte, der Sylben, bey man-<lb/>
chen &#x017F;ogar der Buch&#x017F;taben, vom Gange der<lb/>
Melodie, und von hundert andern Sachen,<lb/>
die zur lebendigen Welt, zum Spruch- und Na-<lb/>
tionalliede geho&#x0364;ren, und mit die&#x017F;em ver&#x017F;chwin-<lb/>
den &#x2014; davon, und davon allein ha&#x0364;ngt das<lb/>
We&#x017F;en, der Zweck, die ganze wundertha&#x0364;tige<lb/>
Kraft ab, den die&#x017F;e Lieder haben, die Ent-<lb/>
zu&#x0364;ckung, die Triebfeder, der ewige Erb- und<lb/>
Lu&#x017F;tge&#x017F;ang des Volks zu &#x017F;eyn! Das &#x017F;ind die<lb/>
Pfeile die&#x017F;es wilden Apollo, womit er Herzen<lb/>
durchbohrt, und woran er Seelen und Geda&#x0364;cht-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e heftet! Je la&#x0364;nger ein Lied dauren &#x017F;oll,<lb/>
de&#x017F;to &#x017F;ta&#x0364;rker, de&#x017F;to &#x017F;innlicher mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en die&#x017F;e See-<lb/>
lenerwecker &#x017F;eyn, daß &#x017F;ie der Macht der Zeit<lb/>
und den Vera&#x0364;nderungen der Jahrhunderte<lb/>
trotzen &#x2014; wohin wendet &#x017F;ich nun die Sache?</p><lb/>
        <p>Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie<lb/>
&#x017F;ie auch in O&#x017F;&#x017F;ian u&#x0364;berall er&#x017F;cheinen, ein wilde-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">res</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[12/0016] handelnder muͤſſen auch, wenn es Lieder hat, ſeine Lieder ſeyn! Je entfernter von kuͤnſtlicher, wiſſenſchaftlicher Denkart, Sprache und Let- ternart das Volk iſt: deſto weniger muͤſſen auch ſeine Lieder fuͤrs Papier gemacht, und todte Lettern Verſe ſeyn: von lyriſchen, vom leben- digen und gleichſam Tanzmaͤßigen des Geſan- ges, von lebendiger Gegenwart der Bilder, vom Zuſammenhange und gleichſam Noth- drange des Jnhalts, der Empfindungen, von Symmetrie der Worte, der Sylben, bey man- chen ſogar der Buchſtaben, vom Gange der Melodie, und von hundert andern Sachen, die zur lebendigen Welt, zum Spruch- und Na- tionalliede gehoͤren, und mit dieſem verſchwin- den — davon, und davon allein haͤngt das Weſen, der Zweck, die ganze wunderthaͤtige Kraft ab, den dieſe Lieder haben, die Ent- zuͤckung, die Triebfeder, der ewige Erb- und Luſtgeſang des Volks zu ſeyn! Das ſind die Pfeile dieſes wilden Apollo, womit er Herzen durchbohrt, und woran er Seelen und Gedaͤcht- niſſe heftet! Je laͤnger ein Lied dauren ſoll, deſto ſtaͤrker, deſto ſinnlicher muͤſſen dieſe See- lenerwecker ſeyn, daß ſie der Macht der Zeit und den Veraͤnderungen der Jahrhunderte trotzen — wohin wendet ſich nun die Sache? Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie ſie auch in Oſſian uͤberall erſcheinen, ein wilde- res

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/16
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/16>, abgerufen am 21.11.2024.