Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.möglich. Erkennet ein Dichter, daß die See- durch
moͤglich. Erkennet ein Dichter, daß die See- durch
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0048" n="44"/> moͤglich. Erkennet ein Dichter, daß die See-<lb/> lenkraͤfte, die theils ſein Gegenſtand und ſeine<lb/> Dichtungsart fodert, und die bey ihm herrſchend<lb/> ſind, <hi rendition="#fr">vorſtellende, erkennende</hi> Kraͤfte ſind:<lb/> ſo muß er ſeinen Gegenſtand und den Jnhalt<lb/> ſeines Gedichts in Gedanken ſo uͤberlegen, ſo<lb/> deutlich und klar faſſen, wenden, und ordnen,<lb/> daß ihm gleichſam alle Lettern ſchon in die<lb/> Seele gegraben ſind, und er gibt an ſeinem<lb/> Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck.<lb/> Fodert ſein Gedicht aber Ausſtroͤmung der Lei-<lb/> denſchaft und der Empfindung, oder iſt in ſei-<lb/> ner Seele dieſe Klaſſe von Kraͤften die wuͤrk-<lb/> ſamſte, die gelaͤufigſte Triebfeder, ohne die er<lb/> nicht arbeiten kann: ſo uͤberlaͤßt er ſich dem<lb/> Feuer der gluͤcklichen Stunde, und ſchreibt und<lb/> bezaubert. Jm erſten Falle haben <hi rendition="#fr">Milton,<lb/> Haller, Kleiſt</hi> und andre gedichtet: ſie ſan-<lb/> nen lang, ohne zu ſchreiben: ſprachen ſie aber,<lb/> ſo wards und ſtand. Bey <hi rendition="#fr">Milton</hi> wenige<lb/> Verſe, die er ſo Naͤchte durch gleichſam als<lb/> Moſaiſche Arbeit in ſeiner Seele gebildet hatte,<lb/> und fruͤhe dann ſeiner Schreiberey ſagte: <hi rendition="#fr">Hal-<lb/> ler,</hi> deſſen Gedichten mans gnug anſieht, wie<lb/> ausgedacht und zuſammendraͤngend ſie ſind:<lb/><hi rendition="#fr">Leßing</hi> iſt, glaub’ ich, in ſeinen ſpaͤtern Stuͤk-<lb/> ken der Dichtkunſt auch in dieſer Zahl — alle<lb/> ſo lebendig, und in der Seele ganz vollendete<lb/> ganz vollendete Stuͤcke nehmen ſich, wenn nicht<lb/> <fw place="bottom" type="catch">durch</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [44/0048]
moͤglich. Erkennet ein Dichter, daß die See-
lenkraͤfte, die theils ſein Gegenſtand und ſeine
Dichtungsart fodert, und die bey ihm herrſchend
ſind, vorſtellende, erkennende Kraͤfte ſind:
ſo muß er ſeinen Gegenſtand und den Jnhalt
ſeines Gedichts in Gedanken ſo uͤberlegen, ſo
deutlich und klar faſſen, wenden, und ordnen,
daß ihm gleichſam alle Lettern ſchon in die
Seele gegraben ſind, und er gibt an ſeinem
Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck.
Fodert ſein Gedicht aber Ausſtroͤmung der Lei-
denſchaft und der Empfindung, oder iſt in ſei-
ner Seele dieſe Klaſſe von Kraͤften die wuͤrk-
ſamſte, die gelaͤufigſte Triebfeder, ohne die er
nicht arbeiten kann: ſo uͤberlaͤßt er ſich dem
Feuer der gluͤcklichen Stunde, und ſchreibt und
bezaubert. Jm erſten Falle haben Milton,
Haller, Kleiſt und andre gedichtet: ſie ſan-
nen lang, ohne zu ſchreiben: ſprachen ſie aber,
ſo wards und ſtand. Bey Milton wenige
Verſe, die er ſo Naͤchte durch gleichſam als
Moſaiſche Arbeit in ſeiner Seele gebildet hatte,
und fruͤhe dann ſeiner Schreiberey ſagte: Hal-
ler, deſſen Gedichten mans gnug anſieht, wie
ausgedacht und zuſammendraͤngend ſie ſind:
Leßing iſt, glaub’ ich, in ſeinen ſpaͤtern Stuͤk-
ken der Dichtkunſt auch in dieſer Zahl — alle
ſo lebendig, und in der Seele ganz vollendete
ganz vollendete Stuͤcke nehmen ſich, wenn nicht
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