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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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und Alter und Charakter und Nebending in
das Gemälde ordnete. Zween alte Väter
und alle ihre so verschiedne Kinder! Des Einen
Sohn gegen einen betrognen Vater unglücklich
dankbar, der andre gegen den gutherzigsten
Vater scheuslich undankbar und abscheulich
glücklich. Der gegen seine Töchter! diese gegen
ihn! ihre Gemal, Freyer und alle Helfers-
helfer im Glück und Unglück. Der blinde
Gloster am Arm seines unerkannten Sohnes,
und der tolle Lear zu den Füssen seiner ver-
triebnen Tochter! und nun der Augenblick
der Wegscheide des Glücks, da Gloster un-
ter seinem Baume stirbt, und die Trompete
rufet alle Nebenumstände, Triebfedern, Cha-
ractere und Situationen dahin eingedichtet --
Alles im Spiel! zu Einem Ganzen sich fort-
wickelnd -- zu einem Vater- und Kinder-
Königs-
und Narren- und Bettler- und
Elend-Ganzen zusammen geordnet, wo
doch überall bey den Disparatsten Scenen
Seele der Begebenheit athmet, wo Oerter,
Zeiten, Umstände selbst möchte ich sagen, die
heidnische Schicksals- und Sternenphi-
losophie,
die durchweg herrschet, so zu die-
sem Ganzen gehören, daß ich Nichts verän-
dern, versetzen, aus andern Stücken hieher
oder hieraus in andre Stücke bringen könnte.
Und das wäre kein Drama? Shakespear

kein

und Alter und Charakter und Nebending in
das Gemaͤlde ordnete. Zween alte Vaͤter
und alle ihre ſo verſchiedne Kinder! Des Einen
Sohn gegen einen betrognen Vater ungluͤcklich
dankbar, der andre gegen den gutherzigſten
Vater ſcheuslich undankbar und abſcheulich
gluͤcklich. Der gegen ſeine Toͤchter! dieſe gegen
ihn! ihre Gemal, Freyer und alle Helfers-
helfer im Gluͤck und Ungluͤck. Der blinde
Gloſter am Arm ſeines unerkannten Sohnes,
und der tolle Lear zu den Fuͤſſen ſeiner ver-
triebnen Tochter! und nun der Augenblick
der Wegſcheide des Gluͤcks, da Gloſter un-
ter ſeinem Baume ſtirbt, und die Trompete
rufet alle Nebenumſtaͤnde, Triebfedern, Cha-
ractere und Situationen dahin eingedichtet —
Alles im Spiel! zu Einem Ganzen ſich fort-
wickelnd — zu einem Vater- und Kinder-
Koͤnigs-
und Narren- und Bettler- und
Elend-Ganzen zuſammen geordnet, wo
doch uͤberall bey den Diſparatſten Scenen
Seele der Begebenheit athmet, wo Oerter,
Zeiten, Umſtaͤnde ſelbſt moͤchte ich ſagen, die
heidniſche Schickſals- und Sternenphi-
loſophie,
die durchweg herrſchet, ſo zu die-
ſem Ganzen gehoͤren, daß ich Nichts veraͤn-
dern, verſetzen, aus andern Stuͤcken hieher
oder hieraus in andre Stuͤcke bringen koͤnnte.
Und das waͤre kein Drama? Shakeſpear

kein
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[95/0099] und Alter und Charakter und Nebending in das Gemaͤlde ordnete. Zween alte Vaͤter und alle ihre ſo verſchiedne Kinder! Des Einen Sohn gegen einen betrognen Vater ungluͤcklich dankbar, der andre gegen den gutherzigſten Vater ſcheuslich undankbar und abſcheulich gluͤcklich. Der gegen ſeine Toͤchter! dieſe gegen ihn! ihre Gemal, Freyer und alle Helfers- helfer im Gluͤck und Ungluͤck. Der blinde Gloſter am Arm ſeines unerkannten Sohnes, und der tolle Lear zu den Fuͤſſen ſeiner ver- triebnen Tochter! und nun der Augenblick der Wegſcheide des Gluͤcks, da Gloſter un- ter ſeinem Baume ſtirbt, und die Trompete rufet alle Nebenumſtaͤnde, Triebfedern, Cha- ractere und Situationen dahin eingedichtet — Alles im Spiel! zu Einem Ganzen ſich fort- wickelnd — zu einem Vater- und Kinder- Koͤnigs- und Narren- und Bettler- und Elend-Ganzen zuſammen geordnet, wo doch uͤberall bey den Diſparatſten Scenen Seele der Begebenheit athmet, wo Oerter, Zeiten, Umſtaͤnde ſelbſt moͤchte ich ſagen, die heidniſche Schickſals- und Sternenphi- loſophie, die durchweg herrſchet, ſo zu die- ſem Ganzen gehoͤren, daß ich Nichts veraͤn- dern, verſetzen, aus andern Stuͤcken hieher oder hieraus in andre Stuͤcke bringen koͤnnte. Und das waͤre kein Drama? Shakeſpear kein

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/99>, abgerufen am 24.11.2024.