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Herder, Johann Gottfried von: Kapitel 5; Kapitel 6. In: Über die neuere Deutsche Litteratur. […] Dritte Sammlung. Riga, 1767, S. 50–75.

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süße Herren verspotten, und närrisch finden: daher rührt alles Leben der Dichtkunst, was ausstarb, da der Ausdruck nichts als Kunst wurde, da man ihn von dem, was er ausdrücken sollte, abtrennete: der ganze Verfall der Dichterei, daß man sie der Mutter Natur entführte, in das Land der Kunst brachte, und als eine Tochter der Künstelei ansah: der Fluch, der auf dem Lesen der Alten ruhet, wenn wir blos Worte lernen, oder den Inhalt historisch durchwandern, oder Aesthetische Regeln suchen, oder Beispiele ausklauben, kurz! wenn wir Gedanken und Worte in ihnen abgetrennt betrachten: nicht das schöpferische Ohr haben, das die Empfindung in seinem Ausdrucke, in vollem Tone höret; nicht jenes dichterische Auge haben, das den Ausdruck als einen Körper erblickt, in welchem sein Geist denket und spricht und handelt. "Daher rührt das Aesthetische Gewäsche, wo immer Gedanke, vom Ausdrucke abgesondert, behandelt wird*:" daher rührt jener Unsegen, daß es uns schwer wird, wie die Alten zu denken, weil man das Denken ohne

* Litt. Br. Th. 17. p. 114.

süße Herren verspotten, und närrisch finden: daher rührt alles Leben der Dichtkunst, was ausstarb, da der Ausdruck nichts als Kunst wurde, da man ihn von dem, was er ausdrücken sollte, abtrennete: der ganze Verfall der Dichterei, daß man sie der Mutter Natur entführte, in das Land der Kunst brachte, und als eine Tochter der Künstelei ansah: der Fluch, der auf dem Lesen der Alten ruhet, wenn wir blos Worte lernen, oder den Inhalt historisch durchwandern, oder Aesthetische Regeln suchen, oder Beispiele ausklauben, kurz! wenn wir Gedanken und Worte in ihnen abgetrennt betrachten: nicht das schöpferische Ohr haben, das die Empfindung in seinem Ausdrucke, in vollem Tone höret; nicht jenes dichterische Auge haben, das den Ausdruck als einen Körper erblickt, in welchem sein Geist denket und spricht und handelt. "Daher rührt das Aesthetische Gewäsche, wo immer Gedanke, vom Ausdrucke abgesondert, behandelt wird*:" daher rührt jener Unsegen, daß es uns schwer wird, wie die Alten zu denken, weil man das Denken ohne

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[68/0020] süße Herren verspotten, und närrisch finden: daher rührt alles Leben der Dichtkunst, was ausstarb, da der Ausdruck nichts als Kunst wurde, da man ihn von dem, was er ausdrücken sollte, abtrennete: der ganze Verfall der Dichterei, daß man sie der Mutter Natur entführte, in das Land der Kunst brachte, und als eine Tochter der Künstelei ansah: der Fluch, der auf dem Lesen der Alten ruhet, wenn wir blos Worte lernen, oder den Inhalt historisch durchwandern, oder Aesthetische Regeln suchen, oder Beispiele ausklauben, kurz! wenn wir Gedanken und Worte in ihnen abgetrennt betrachten: nicht das schöpferische Ohr haben, das die Empfindung in seinem Ausdrucke, in vollem Tone höret; nicht jenes dichterische Auge haben, das den Ausdruck als einen Körper erblickt, in welchem sein Geist denket und spricht und handelt. "Daher rührt das Aesthetische Gewäsche, wo immer Gedanke, vom Ausdrucke abgesondert, behandelt wird *:" daher rührt jener Unsegen, daß es uns schwer wird, wie die Alten zu denken, weil man das Denken ohne * Litt. Br. Th. 17. p. 114.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kapitel 5; Kapitel 6. In: Über die neuere Deutsche Litteratur. […] Dritte Sammlung. Riga, 1767, S. 50–75, hier S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_gedanke_1767/20>, abgerufen am 24.04.2024.