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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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wäre übel daran gewesen, wenn der Zufall das Werk gehabt
hätte, mit organischen Formen zu spielen. Also schied die
weise Mutter und trennete die Geschlechter. Sie wußte
aber eine Organisation zu finden, wo sich zwei Geschöpfe zu
Einem vereinten und in ihrer Mitte ein Drittes würde, der
Abdruck ihrer Beider im Augenblick der innigsten organischen
Lebenswärme.

Jn dieser empfangen, wird das neue Wesen allein auch
durch sie fortgebildet. Mütterliche Wärme umfängt es und
bildet es aus. Noch athmet seine Lunge nicht und seine
größere Brustdrüse sauget; selbst beim Menschen scheint die
rechte Herzkammer noch zu fehlen und statt des Bluts fließet
ein weisser Saft durch seine Adern. Je mehr indeß die müt-
terliche Wärme auch seine innere Wärme anfacht: desto mehr
bildet sich das Herz, das Blut röthet sich und gewinnet, ob
es gleich die Lunge noch nicht berühren kann, energischen
Kreislauf. Jn lauten Pulsschlägen reget sich das Geschöpf;
und tritt endlich vollkommen gebildet auf die Welt, begabt
mit allen Trieben der Selbstbewegung und Empfindung, zu
denen es nur in einem lebendigen Geschöpf dieser Art orga-
nisirt werden konnte. Sogleich reichen ihm Luft, Milch,
Nahrungsmittel, selbst der Schmerz und jedes Bedürfniß
Anlässe dar, auf tausend Wegen Wärme einzusaugen und sie


durch

waͤre uͤbel daran geweſen, wenn der Zufall das Werk gehabt
haͤtte, mit organiſchen Formen zu ſpielen. Alſo ſchied die
weiſe Mutter und trennete die Geſchlechter. Sie wußte
aber eine Organiſation zu finden, wo ſich zwei Geſchoͤpfe zu
Einem vereinten und in ihrer Mitte ein Drittes wuͤrde, der
Abdruck ihrer Beider im Augenblick der innigſten organiſchen
Lebenswaͤrme.

Jn dieſer empfangen, wird das neue Weſen allein auch
durch ſie fortgebildet. Muͤtterliche Waͤrme umfaͤngt es und
bildet es aus. Noch athmet ſeine Lunge nicht und ſeine
groͤßere Bruſtdruͤſe ſauget; ſelbſt beim Menſchen ſcheint die
rechte Herzkammer noch zu fehlen und ſtatt des Bluts fließet
ein weiſſer Saft durch ſeine Adern. Je mehr indeß die muͤt-
terliche Waͤrme auch ſeine innere Waͤrme anfacht: deſto mehr
bildet ſich das Herz, das Blut roͤthet ſich und gewinnet, ob
es gleich die Lunge noch nicht beruͤhren kann, energiſchen
Kreislauf. Jn lauten Pulsſchlaͤgen reget ſich das Geſchoͤpf;
und tritt endlich vollkommen gebildet auf die Welt, begabt
mit allen Trieben der Selbſtbewegung und Empfindung, zu
denen es nur in einem lebendigen Geſchoͤpf dieſer Art orga-
niſirt werden konnte. Sogleich reichen ihm Luft, Milch,
Nahrungsmittel, ſelbſt der Schmerz und jedes Beduͤrfniß
Anlaͤſſe dar, auf tauſend Wegen Waͤrme einzuſaugen und ſie


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[108/0130] waͤre uͤbel daran geweſen, wenn der Zufall das Werk gehabt haͤtte, mit organiſchen Formen zu ſpielen. Alſo ſchied die weiſe Mutter und trennete die Geſchlechter. Sie wußte aber eine Organiſation zu finden, wo ſich zwei Geſchoͤpfe zu Einem vereinten und in ihrer Mitte ein Drittes wuͤrde, der Abdruck ihrer Beider im Augenblick der innigſten organiſchen Lebenswaͤrme. Jn dieſer empfangen, wird das neue Weſen allein auch durch ſie fortgebildet. Muͤtterliche Waͤrme umfaͤngt es und bildet es aus. Noch athmet ſeine Lunge nicht und ſeine groͤßere Bruſtdruͤſe ſauget; ſelbſt beim Menſchen ſcheint die rechte Herzkammer noch zu fehlen und ſtatt des Bluts fließet ein weiſſer Saft durch ſeine Adern. Je mehr indeß die muͤt- terliche Waͤrme auch ſeine innere Waͤrme anfacht: deſto mehr bildet ſich das Herz, das Blut roͤthet ſich und gewinnet, ob es gleich die Lunge noch nicht beruͤhren kann, energiſchen Kreislauf. Jn lauten Pulsſchlaͤgen reget ſich das Geſchoͤpf; und tritt endlich vollkommen gebildet auf die Welt, begabt mit allen Trieben der Selbſtbewegung und Empfindung, zu denen es nur in einem lebendigen Geſchoͤpf dieſer Art orga- niſirt werden konnte. Sogleich reichen ihm Luft, Milch, Nahrungsmittel, ſelbſt der Schmerz und jedes Beduͤrfniß Anlaͤſſe dar, auf tauſend Wegen Waͤrme einzuſaugen und ſie durch

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/130>, abgerufen am 03.05.2024.