Schilde, seine Flügel: bemerket die ungeheuren Lasten, die ein Käfer, eine Fliege, eine Ameise trägt; die Macht, die ei- ne erzürnte Wespe beweiset: sehet die fünftausend Muskeln, die Lyonet in der Weidenraupe gezählt hat, da der mächtige Mensch deren kaum fünftehalbhundert besitzet; betrachtet endlich die Kunstwerke, die sie mit ihren Sinnen und Glie- dern vornehmen und schließet auf eine organische Fülle von Kräften, die in jedem ihrer Theile einwohnend wirken. Wer kann den ausgerissenen zitternden Fuß einer Spinne, einer Fliege sehen, ohne wahrzunehmen, wie viel Kraft des lebendigen Reizes in ihm sei, auch abgetrennt von seinem Körper? Der Kopf des Thiers war noch zu klein, um alle Lebensreize in sich zu versammeln; die reiche Natur verbrei- tete diese also in alle auch die feinsten Glieder. Seine Fühl- hörner sind Sinne: seine feinen Füße Muskeln und Arme: jeder Nervenknote ein kleineres Gehirn, jede reizbare Faser beinahe ein schlagendes Herz; und so konnten die feinen Kunstwerke vollbracht werden, zu denen manche dieser Gat- tungen ganz gebauet sind und zu welchen sie Organisation und Bedürfniß treibet. Welche feine Elasticität hat der Faden einer Spinne, einer Seidenraupe! und die Künstle- rin zog ihn aus sich selbst, zum offenbaren Erweise, daß sie selbst ganz Elasticität und Reiz, also auch in ihren Trieben
und
O.
Schilde, ſeine Fluͤgel: bemerket die ungeheuren Laſten, die ein Kaͤfer, eine Fliege, eine Ameiſe traͤgt; die Macht, die ei- ne erzuͤrnte Weſpe beweiſet: ſehet die fuͤnftauſend Muskeln, die Lyonet in der Weidenraupe gezaͤhlt hat, da der maͤchtige Menſch deren kaum fuͤnftehalbhundert beſitzet; betrachtet endlich die Kunſtwerke, die ſie mit ihren Sinnen und Glie- dern vornehmen und ſchließet auf eine organiſche Fuͤlle von Kraͤften, die in jedem ihrer Theile einwohnend wirken. Wer kann den ausgeriſſenen zitternden Fuß einer Spinne, einer Fliege ſehen, ohne wahrzunehmen, wie viel Kraft des lebendigen Reizes in ihm ſei, auch abgetrennt von ſeinem Koͤrper? Der Kopf des Thiers war noch zu klein, um alle Lebensreize in ſich zu verſammeln; die reiche Natur verbrei- tete dieſe alſo in alle auch die feinſten Glieder. Seine Fuͤhl- hoͤrner ſind Sinne: ſeine feinen Fuͤße Muskeln und Arme: jeder Nervenknote ein kleineres Gehirn, jede reizbare Faſer beinahe ein ſchlagendes Herz; und ſo konnten die feinen Kunſtwerke vollbracht werden, zu denen manche dieſer Gat- tungen ganz gebauet ſind und zu welchen ſie Organiſation und Beduͤrfniß treibet. Welche feine Elaſticitaͤt hat der Faden einer Spinne, einer Seidenraupe! und die Kuͤnſtle- rin zog ihn aus ſich ſelbſt, zum offenbaren Erweiſe, daß ſie ſelbſt ganz Elaſticitaͤt und Reiz, alſo auch in ihren Trieben
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Schilde, ſeine Fluͤgel: bemerket die ungeheuren Laſten, die
ein Kaͤfer, eine Fliege, eine Ameiſe traͤgt; die Macht, die ei-
ne erzuͤrnte Weſpe beweiſet: ſehet die fuͤnftauſend Muskeln,
die Lyonet in der Weidenraupe gezaͤhlt hat, da der maͤchtige
Menſch deren kaum fuͤnftehalbhundert beſitzet; betrachtet
endlich die Kunſtwerke, die ſie mit ihren Sinnen und Glie-
dern vornehmen und ſchließet auf eine organiſche Fuͤlle von
Kraͤften, die in jedem ihrer Theile einwohnend wirken.
Wer kann den ausgeriſſenen zitternden Fuß einer Spinne,
einer Fliege ſehen, ohne wahrzunehmen, wie viel Kraft des
lebendigen Reizes in ihm ſei, auch abgetrennt von ſeinem
Koͤrper? Der Kopf des Thiers war noch zu klein, um alle
Lebensreize in ſich zu verſammeln; die reiche Natur verbrei-
tete dieſe alſo in alle auch die feinſten Glieder. Seine Fuͤhl-
hoͤrner ſind Sinne: ſeine feinen Fuͤße Muskeln und Arme:
jeder Nervenknote ein kleineres Gehirn, jede reizbare Faſer
beinahe ein ſchlagendes Herz; und ſo konnten die feinen
Kunſtwerke vollbracht werden, zu denen manche dieſer Gat-
tungen ganz gebauet ſind und zu welchen ſie Organiſation
und Beduͤrfniß treibet. Welche feine Elaſticitaͤt hat der
Faden einer Spinne, einer Seidenraupe! und die Kuͤnſtle-
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ſelbſt ganz Elaſticitaͤt und Reiz, alſo auch in ihren Trieben
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/143>, abgerufen am 24.11.2024.
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