Und so führet uns die Natur selbst auf die Kunsttrie- be, die man vorzüglich einigen Jnsekten zu geben gewohnt ist; aus keiner andern Ursache als weil uns ihr Kunstwerk enger ins Auge fällt und wir dasselbe schon mit unsern Wer- ken vergleichen. Je mehr die Werkzeuge in einem Geschöpf zerlegt sind, je lebendiger und feiner seine Reize werden: de- sto weniger kann es uns fremde dünken, Wirkungen wahrzu- nehmen, zu denen Thiere von gröberm Bau und von einer stumpferen Reizbarkeit einzelner Theile nicht mehr tüchtig sind, so viel andre Vorzüge sie übrigens haben mögen. Eben die Kleinheit des Geschöpfs und seine Feinheit wirkte zur Kunst; da diese nichts anders seyn kann, als das Resul- tat aller seiner Empfindungen, Thätigkeiten und Reize.
Beispiele werden auch hier das beste sagen; und der treue Fleiß eines Swammerdamm, Reaumur, Lyonet, Rösels u. a. haben uns die Beispiele aufs schönste vors Au- ge gemalet. Das Einspinnen der Raupe, was ist es an- ders, als was so viel andre Geschöpfe unkünstlicher thun, in- dem sie sich häuten. Die Schlange wirft ihre Haut ab, der Vogel seine Federn, viele Landthiere ändern ihre Haare: sie verjüngen sich damit und erstatten ih- re Kräfte. Die Raupe verjünget sich auch, nur auf eine härtere, feinere, künstlichere Weise: sie streift ihre Dornhülle
ab,
Und ſo fuͤhret uns die Natur ſelbſt auf die Kunſttrie- be, die man vorzuͤglich einigen Jnſekten zu geben gewohnt iſt; aus keiner andern Urſache als weil uns ihr Kunſtwerk enger ins Auge faͤllt und wir daſſelbe ſchon mit unſern Wer- ken vergleichen. Je mehr die Werkzeuge in einem Geſchoͤpf zerlegt ſind, je lebendiger und feiner ſeine Reize werden: de- ſto weniger kann es uns fremde duͤnken, Wirkungen wahrzu- nehmen, zu denen Thiere von groͤberm Bau und von einer ſtumpferen Reizbarkeit einzelner Theile nicht mehr tuͤchtig ſind, ſo viel andre Vorzuͤge ſie uͤbrigens haben moͤgen. Eben die Kleinheit des Geſchoͤpfs und ſeine Feinheit wirkte zur Kunſt; da dieſe nichts anders ſeyn kann, als das Reſul- tat aller ſeiner Empfindungen, Thaͤtigkeiten und Reize.
Beiſpiele werden auch hier das beſte ſagen; und der treue Fleiß eines Swammerdamm, Reaumur, Lyonet, Roͤſels u. a. haben uns die Beiſpiele aufs ſchoͤnſte vors Au- ge gemalet. Das Einſpinnen der Raupe, was iſt es an- ders, als was ſo viel andre Geſchoͤpfe unkuͤnſtlicher thun, in- dem ſie ſich haͤuten. Die Schlange wirft ihre Haut ab, der Vogel ſeine Federn, viele Landthiere aͤndern ihre Haare: ſie verjuͤngen ſich damit und erſtatten ih- re Kraͤfte. Die Raupe verjuͤnget ſich auch, nur auf eine haͤrtere, feinere, kuͤnſtlichere Weiſe: ſie ſtreift ihre Dornhuͤlle
ab,
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Und ſo fuͤhret uns die Natur ſelbſt auf die Kunſttrie-
be, die man vorzuͤglich einigen Jnſekten zu geben gewohnt
iſt; aus keiner andern Urſache als weil uns ihr Kunſtwerk
enger ins Auge faͤllt und wir daſſelbe ſchon mit unſern Wer-
ken vergleichen. Je mehr die Werkzeuge in einem Geſchoͤpf
zerlegt ſind, je lebendiger und feiner ſeine Reize werden: de-
ſto weniger kann es uns fremde duͤnken, Wirkungen wahrzu-
nehmen, zu denen Thiere von groͤberm Bau und von einer
ſtumpferen Reizbarkeit einzelner Theile nicht mehr tuͤchtig
ſind, ſo viel andre Vorzuͤge ſie uͤbrigens haben moͤgen.
Eben die Kleinheit des Geſchoͤpfs und ſeine Feinheit wirkte
zur Kunſt; da dieſe nichts anders ſeyn kann, als das Reſul-
tat aller ſeiner Empfindungen, Thaͤtigkeiten und Reize.
Beiſpiele werden auch hier das beſte ſagen; und der
treue Fleiß eines Swammerdamm, Reaumur, Lyonet,
Roͤſels u. a. haben uns die Beiſpiele aufs ſchoͤnſte vors Au-
ge gemalet. Das Einſpinnen der Raupe, was iſt es an-
ders, als was ſo viel andre Geſchoͤpfe unkuͤnſtlicher thun, in-
dem ſie ſich haͤuten. Die Schlange wirft ihre Haut
ab, der Vogel ſeine Federn, viele Landthiere aͤndern
ihre Haare: ſie verjuͤngen ſich damit und erſtatten ih-
re Kraͤfte. Die Raupe verjuͤnget ſich auch, nur auf eine
haͤrtere, feinere, kuͤnſtlichere Weiſe: ſie ſtreift ihre Dornhuͤlle
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/160>, abgerufen am 21.11.2024.
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