Bildung und Lebensart den Thieren nähern. Selbst die Un- fühlbaren des Diodors, sammt andern Fabelgeschöpfen alter und mittlerer Schriftsteller gehen auf zwei Beinen; und ich begreife nicht, wie das Menschengeschlecht, wenn es je diese nie- drige Lebensweise als Natur gehabt hätte, sich zu einer andern so Zwang- so Kunstvollen jemals würde erhoben haben. Wel- che Mühe kostete es, die Verwilderten, die man fand, zu unsrer Lebensart und Nahrung zu gewöhnen! Und sie waren nur verwildert; nur wenige Jahre unter diesen Unvernünftigen gewesen. Das Eskimo'ische Mädchen hatte sogar noch Be- griffe ihres vorigen Zustandes, Reste der Sprache und Jn- stinkte zu ihrem Vaterlande; und doch lag ihre Vernunft in Thierheit gefangen: sie hatte von ihren Reisen, von ih- rem ganzen wilden Zustande keine Erinnerung. Die andern besaßen nicht nur keine Sprache; sondern waren zum Theil auch auf immer zur menschlichen Sprache verwahrloset. -- Und das Menschenthier sollte, wenn es Aeonen lang in die- sem niedrigen Zustande gewesen, ja im Mutterleibe schon durch den vierfüßigen Gang zu demselben nach ganz andern Verhältnissen wäre gebildet worden, ihn freiwillig verlassen und sich aufrecht erhoben haben? Aus Kraft des Thiers, die ihn ewig herabzog, sollte er sich zum Menschen gemacht und menschliche Sprache erfunden haben, ehe er ein Mensch war? Wäre der Mensch ein vierfüßiges Thier, wäre ers Jahrtau-
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Bildung und Lebensart den Thieren naͤhern. Selbſt die Un- fuͤhlbaren des Diodors, ſammt andern Fabelgeſchoͤpfen alter und mittlerer Schriftſteller gehen auf zwei Beinen; und ich begreife nicht, wie das Menſchengeſchlecht, wenn es je dieſe nie- drige Lebensweiſe als Natur gehabt haͤtte, ſich zu einer andern ſo Zwang- ſo Kunſtvollen jemals wuͤrde erhoben haben. Wel- che Muͤhe koſtete es, die Verwilderten, die man fand, zu unſrer Lebensart und Nahrung zu gewoͤhnen! Und ſie waren nur verwildert; nur wenige Jahre unter dieſen Unvernuͤnftigen geweſen. Das Eskimo'iſche Maͤdchen hatte ſogar noch Be- griffe ihres vorigen Zuſtandes, Reſte der Sprache und Jn- ſtinkte zu ihrem Vaterlande; und doch lag ihre Vernunft in Thierheit gefangen: ſie hatte von ihren Reiſen, von ih- rem ganzen wilden Zuſtande keine Erinnerung. Die andern beſaßen nicht nur keine Sprache; ſondern waren zum Theil auch auf immer zur menſchlichen Sprache verwahrloſet. — Und das Menſchenthier ſollte, wenn es Aeonen lang in die- ſem niedrigen Zuſtande geweſen, ja im Mutterleibe ſchon durch den vierfuͤßigen Gang zu demſelben nach ganz andern Verhaͤltniſſen waͤre gebildet worden, ihn freiwillig verlaſſen und ſich aufrecht erhoben haben? Aus Kraft des Thiers, die ihn ewig herabzog, ſollte er ſich zum Menſchen gemacht und menſchliche Sprache erfunden haben, ehe er ein Menſch war? Waͤre der Menſch ein vierfuͤßiges Thier, waͤre ers Jahrtau-
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Bildung und Lebensart den Thieren naͤhern. Selbſt die Un-
fuͤhlbaren des Diodors, ſammt andern Fabelgeſchoͤpfen alter
und mittlerer Schriftſteller gehen auf zwei Beinen; und ich
begreife nicht, wie das Menſchengeſchlecht, wenn es je dieſe nie-
drige Lebensweiſe als Natur gehabt haͤtte, ſich zu einer andern
ſo Zwang- ſo Kunſtvollen jemals wuͤrde erhoben haben. Wel-
che Muͤhe koſtete es, die Verwilderten, die man fand, zu unſrer
Lebensart und Nahrung zu gewoͤhnen! Und ſie waren nur
verwildert; nur wenige Jahre unter dieſen Unvernuͤnftigen
geweſen. Das Eskimo'iſche Maͤdchen hatte ſogar noch Be-
griffe ihres vorigen Zuſtandes, Reſte der Sprache und Jn-
ſtinkte zu ihrem Vaterlande; und doch lag ihre Vernunft
in Thierheit gefangen: ſie hatte von ihren Reiſen, von ih-
rem ganzen wilden Zuſtande keine Erinnerung. Die andern
beſaßen nicht nur keine Sprache; ſondern waren zum Theil
auch auf immer zur menſchlichen Sprache verwahrloſet. —
Und das Menſchenthier ſollte, wenn es Aeonen lang in die-
ſem niedrigen Zuſtande geweſen, ja im Mutterleibe ſchon
durch den vierfuͤßigen Gang zu demſelben nach ganz andern
Verhaͤltniſſen waͤre gebildet worden, ihn freiwillig verlaſſen
und ſich aufrecht erhoben haben? Aus Kraft des Thiers, die
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 178[158]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/180>, abgerufen am 24.11.2024.
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