Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

Um uns zu diesem Schluß vorzubereiten: so lasset uns
an Menschengesichter denken, die auch nur in der weitesten
Ferne ans Thier zu grenzen scheinen. Was macht sie thie-
risch? was gibt ihnen diesen entehrenden groben Anblick?
der hervorgerückte Kiefer, der zurückgeschobne Kopf, kurz die
entfernteste Aehnlichkeit mit der Organisation zum vierfüßi-
gen Gange. Sobald der Schwerpunkt verändert wird, auf
dem der Menschenschädel in seiner erhabnen Wölbung ruhet:
so scheinet der Kopf am Rücken vest, das Gebiß der Zähne
tritt hervor, die Nase breitet sich platt und thierisch. Oben
treten die Augenhölen näher zusammen: die Stirn geht zu-
rück und bekommt von beiden Seiten den tödtlichen Druck
des Affenschädels. Der Kopf wird oben und hinten spitz:
die Vertiefung der Hirnschale bekommt eine kleinere Weite
-- und das alles, weil die Richtung der Form verrückt scheint,
die schöne freie Bildung des Haupts zum aufrechten Gange
des Menschen.

Rücket diesen Punkt anders und die ganze Formung
wird schön und edel. Gedankenreich tritt die Stirn hervor
und der Schädel wölbet sich mit erhabner ruhiger Würde.
Die breite Thiernase zieht sich zusammen und organisirt sich
höher und feiner: der zurückgetretene Mund kann schöner be-
deckt werden und so formt sich die Lippe des Menschen, die

der
Y

Um uns zu dieſem Schluß vorzubereiten: ſo laſſet uns
an Menſchengeſichter denken, die auch nur in der weiteſten
Ferne ans Thier zu grenzen ſcheinen. Was macht ſie thie-
riſch? was gibt ihnen dieſen entehrenden groben Anblick?
der hervorgeruͤckte Kiefer, der zuruͤckgeſchobne Kopf, kurz die
entfernteſte Aehnlichkeit mit der Organiſation zum vierfuͤßi-
gen Gange. Sobald der Schwerpunkt veraͤndert wird, auf
dem der Menſchenſchaͤdel in ſeiner erhabnen Woͤlbung ruhet:
ſo ſcheinet der Kopf am Ruͤcken veſt, das Gebiß der Zaͤhne
tritt hervor, die Naſe breitet ſich platt und thieriſch. Oben
treten die Augenhoͤlen naͤher zuſammen: die Stirn geht zu-
ruͤck und bekommt von beiden Seiten den toͤdtlichen Druck
des Affenſchaͤdels. Der Kopf wird oben und hinten ſpitz:
die Vertiefung der Hirnſchale bekommt eine kleinere Weite
— und das alles, weil die Richtung der Form verruͤckt ſcheint,
die ſchoͤne freie Bildung des Haupts zum aufrechten Gange
des Menſchen.

Ruͤcket dieſen Punkt anders und die ganze Formung
wird ſchoͤn und edel. Gedankenreich tritt die Stirn hervor
und der Schaͤdel woͤlbet ſich mit erhabner ruhiger Wuͤrde.
Die breite Thiernaſe zieht ſich zuſammen und organiſirt ſich
hoͤher und feiner: der zuruͤckgetretene Mund kann ſchoͤner be-
deckt werden und ſo formt ſich die Lippe des Menſchen, die

der
Y
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0191" n="189[169]"/>
          <p>Um uns zu die&#x017F;em Schluß vorzubereiten: &#x017F;o la&#x017F;&#x017F;et uns<lb/>
an Men&#x017F;chenge&#x017F;ichter denken, die auch nur in der weite&#x017F;ten<lb/>
Ferne ans Thier zu grenzen &#x017F;cheinen. Was macht &#x017F;ie thie-<lb/>
ri&#x017F;ch? was gibt ihnen die&#x017F;en entehrenden groben Anblick?<lb/>
der hervorgeru&#x0364;ckte Kiefer, der zuru&#x0364;ckge&#x017F;chobne Kopf, kurz die<lb/>
entfernte&#x017F;te Aehnlichkeit mit der Organi&#x017F;ation zum vierfu&#x0364;ßi-<lb/>
gen Gange. Sobald der Schwerpunkt vera&#x0364;ndert wird, auf<lb/>
dem der Men&#x017F;chen&#x017F;cha&#x0364;del in &#x017F;einer erhabnen Wo&#x0364;lbung ruhet:<lb/>
&#x017F;o &#x017F;cheinet der Kopf am Ru&#x0364;cken ve&#x017F;t, das Gebiß der Za&#x0364;hne<lb/>
tritt hervor, die Na&#x017F;e breitet &#x017F;ich platt und thieri&#x017F;ch. Oben<lb/>
treten die Augenho&#x0364;len na&#x0364;her zu&#x017F;ammen: die Stirn geht zu-<lb/>
ru&#x0364;ck und bekommt von beiden Seiten den to&#x0364;dtlichen Druck<lb/>
des Affen&#x017F;cha&#x0364;dels. Der Kopf wird oben und hinten &#x017F;pitz:<lb/>
die Vertiefung der Hirn&#x017F;chale bekommt eine kleinere Weite<lb/>
&#x2014; und das alles, weil die Richtung der Form verru&#x0364;ckt &#x017F;cheint,<lb/>
die &#x017F;cho&#x0364;ne freie Bildung des Haupts zum aufrechten Gange<lb/>
des Men&#x017F;chen.</p><lb/>
          <p>Ru&#x0364;cket die&#x017F;en Punkt anders und die ganze Formung<lb/>
wird &#x017F;cho&#x0364;n und edel. Gedankenreich tritt die Stirn hervor<lb/>
und der Scha&#x0364;del wo&#x0364;lbet &#x017F;ich mit erhabner ruhiger Wu&#x0364;rde.<lb/>
Die breite Thierna&#x017F;e zieht &#x017F;ich zu&#x017F;ammen und organi&#x017F;irt &#x017F;ich<lb/>
ho&#x0364;her und feiner: der zuru&#x0364;ckgetretene Mund kann &#x017F;cho&#x0364;ner be-<lb/>
deckt werden und &#x017F;o formt &#x017F;ich die Lippe des Men&#x017F;chen, die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Y</fw><fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[189[169]/0191] Um uns zu dieſem Schluß vorzubereiten: ſo laſſet uns an Menſchengeſichter denken, die auch nur in der weiteſten Ferne ans Thier zu grenzen ſcheinen. Was macht ſie thie- riſch? was gibt ihnen dieſen entehrenden groben Anblick? der hervorgeruͤckte Kiefer, der zuruͤckgeſchobne Kopf, kurz die entfernteſte Aehnlichkeit mit der Organiſation zum vierfuͤßi- gen Gange. Sobald der Schwerpunkt veraͤndert wird, auf dem der Menſchenſchaͤdel in ſeiner erhabnen Woͤlbung ruhet: ſo ſcheinet der Kopf am Ruͤcken veſt, das Gebiß der Zaͤhne tritt hervor, die Naſe breitet ſich platt und thieriſch. Oben treten die Augenhoͤlen naͤher zuſammen: die Stirn geht zu- ruͤck und bekommt von beiden Seiten den toͤdtlichen Druck des Affenſchaͤdels. Der Kopf wird oben und hinten ſpitz: die Vertiefung der Hirnſchale bekommt eine kleinere Weite — und das alles, weil die Richtung der Form verruͤckt ſcheint, die ſchoͤne freie Bildung des Haupts zum aufrechten Gange des Menſchen. Ruͤcket dieſen Punkt anders und die ganze Formung wird ſchoͤn und edel. Gedankenreich tritt die Stirn hervor und der Schaͤdel woͤlbet ſich mit erhabner ruhiger Wuͤrde. Die breite Thiernaſe zieht ſich zuſammen und organiſirt ſich hoͤher und feiner: der zuruͤckgetretene Mund kann ſchoͤner be- deckt werden und ſo formt ſich die Lippe des Menſchen, die der Y

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/191
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 189[169]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/191>, abgerufen am 21.11.2024.