Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

schiedner, bestimmter und vergleichungsweise größer als bei
allen andern Geschöpfen. Beim Menschen überwiegt das
große Gehirn das kleine um ein vieles: und das größere
Gewicht desselben zeigt seine innere Fülle und mehrere Aus-
arbeitung.

3. Nun zeigen alle bisherigen Erfahrungen, die der
gelehrteste Physiolog aller Nationen, Haller, gesammlet, wie
wenig sich das untheilbare Werk der Jdeenbildung in
einzelnen materiellen Theilen des Gehirns materiell und zer-
streut aufsuchen lasse; ja mich dünkt, wenn alle diese Erfah-
rungen auch nicht vorhanden wären, hätte man aus der Be-
schaffenheit der Jdeenbildung selbst darauf kommen müssen.
Was ists, das wir die Kraft unsres Denkens nach ihren ver-
schiednen Verhältnissen bald Einbildungskraft und Gedächt-
niß, bald Witz und Verstand nennen? daß wir die Triebe
zu begehren vom reinen Willen absondern und endlich gar
Empfindungs- und Bewegungskräfte theilen? Die mindeste
genauere Ueberlegung zeigt, daß diese Fähigkeiten nicht ört-
lich von einander getrennt seyn können, als ob in dieser Ge-
gend des Gehirns der Verstand, in jener das Gedächtniß
und die Einbildungskraft, in einer andern die Leidenschaften
und sinnlichen Kräfte wohnen: denn der Gedanke unsrer
Seele ist ungetheilt und jede dieser Wirkungen ist eine Frucht

der
Z

ſchiedner, beſtimmter und vergleichungsweiſe groͤßer als bei
allen andern Geſchoͤpfen. Beim Menſchen uͤberwiegt das
große Gehirn das kleine um ein vieles: und das groͤßere
Gewicht deſſelben zeigt ſeine innere Fuͤlle und mehrere Aus-
arbeitung.

3. Nun zeigen alle bisherigen Erfahrungen, die der
gelehrteſte Phyſiolog aller Nationen, Haller, geſammlet, wie
wenig ſich das untheilbare Werk der Jdeenbildung in
einzelnen materiellen Theilen des Gehirns materiell und zer-
ſtreut aufſuchen laſſe; ja mich duͤnkt, wenn alle dieſe Erfah-
rungen auch nicht vorhanden waͤren, haͤtte man aus der Be-
ſchaffenheit der Jdeenbildung ſelbſt darauf kommen muͤſſen.
Was iſts, das wir die Kraft unſres Denkens nach ihren ver-
ſchiednen Verhaͤltniſſen bald Einbildungskraft und Gedaͤcht-
niß, bald Witz und Verſtand nennen? daß wir die Triebe
zu begehren vom reinen Willen abſondern und endlich gar
Empfindungs- und Bewegungskraͤfte theilen? Die mindeſte
genauere Ueberlegung zeigt, daß dieſe Faͤhigkeiten nicht oͤrt-
lich von einander getrennt ſeyn koͤnnen, als ob in dieſer Ge-
gend des Gehirns der Verſtand, in jener das Gedaͤchtniß
und die Einbildungskraft, in einer andern die Leidenſchaften
und ſinnlichen Kraͤfte wohnen: denn der Gedanke unſrer
Seele iſt ungetheilt und jede dieſer Wirkungen iſt eine Frucht

der
Z
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0199" n="197[177]"/>
&#x017F;chiedner, be&#x017F;timmter und vergleichungswei&#x017F;e gro&#x0364;ßer als bei<lb/>
allen andern Ge&#x017F;cho&#x0364;pfen. Beim Men&#x017F;chen u&#x0364;berwiegt das<lb/>
große Gehirn das kleine um ein vieles: und das gro&#x0364;ßere<lb/>
Gewicht de&#x017F;&#x017F;elben zeigt &#x017F;eine innere Fu&#x0364;lle und mehrere Aus-<lb/>
arbeitung.</p><lb/>
          <p>3. Nun zeigen alle bisherigen Erfahrungen, die der<lb/>
gelehrte&#x017F;te Phy&#x017F;iolog aller Nationen, <hi rendition="#fr">Haller</hi>, ge&#x017F;ammlet, wie<lb/>
wenig &#x017F;ich das <hi rendition="#fr">untheilbare Werk der Jdeenbildung</hi> in<lb/>
einzelnen materiellen Theilen des Gehirns materiell und zer-<lb/>
&#x017F;treut auf&#x017F;uchen la&#x017F;&#x017F;e; ja mich du&#x0364;nkt, wenn alle die&#x017F;e Erfah-<lb/>
rungen auch nicht vorhanden wa&#x0364;ren, ha&#x0364;tte man aus der Be-<lb/>
&#x017F;chaffenheit der Jdeenbildung &#x017F;elb&#x017F;t darauf kommen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Was i&#x017F;ts, das wir die Kraft un&#x017F;res Denkens nach ihren ver-<lb/>
&#x017F;chiednen Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en bald Einbildungskraft und Geda&#x0364;cht-<lb/>
niß, bald Witz und Ver&#x017F;tand nennen? daß wir die Triebe<lb/>
zu begehren vom reinen Willen ab&#x017F;ondern und endlich gar<lb/>
Empfindungs- und Bewegungskra&#x0364;fte theilen? Die minde&#x017F;te<lb/>
genauere Ueberlegung zeigt, daß die&#x017F;e Fa&#x0364;higkeiten nicht o&#x0364;rt-<lb/>
lich von einander getrennt &#x017F;eyn ko&#x0364;nnen, als ob in die&#x017F;er Ge-<lb/>
gend des Gehirns der Ver&#x017F;tand, in jener das Geda&#x0364;chtniß<lb/>
und die Einbildungskraft, in einer andern die Leiden&#x017F;chaften<lb/>
und &#x017F;innlichen Kra&#x0364;fte wohnen: denn der Gedanke un&#x017F;rer<lb/>
Seele i&#x017F;t ungetheilt und jede die&#x017F;er Wirkungen i&#x017F;t eine Frucht<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Z</fw><fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[197[177]/0199] ſchiedner, beſtimmter und vergleichungsweiſe groͤßer als bei allen andern Geſchoͤpfen. Beim Menſchen uͤberwiegt das große Gehirn das kleine um ein vieles: und das groͤßere Gewicht deſſelben zeigt ſeine innere Fuͤlle und mehrere Aus- arbeitung. 3. Nun zeigen alle bisherigen Erfahrungen, die der gelehrteſte Phyſiolog aller Nationen, Haller, geſammlet, wie wenig ſich das untheilbare Werk der Jdeenbildung in einzelnen materiellen Theilen des Gehirns materiell und zer- ſtreut aufſuchen laſſe; ja mich duͤnkt, wenn alle dieſe Erfah- rungen auch nicht vorhanden waͤren, haͤtte man aus der Be- ſchaffenheit der Jdeenbildung ſelbſt darauf kommen muͤſſen. Was iſts, das wir die Kraft unſres Denkens nach ihren ver- ſchiednen Verhaͤltniſſen bald Einbildungskraft und Gedaͤcht- niß, bald Witz und Verſtand nennen? daß wir die Triebe zu begehren vom reinen Willen abſondern und endlich gar Empfindungs- und Bewegungskraͤfte theilen? Die mindeſte genauere Ueberlegung zeigt, daß dieſe Faͤhigkeiten nicht oͤrt- lich von einander getrennt ſeyn koͤnnen, als ob in dieſer Ge- gend des Gehirns der Verſtand, in jener das Gedaͤchtniß und die Einbildungskraft, in einer andern die Leidenſchaften und ſinnlichen Kraͤfte wohnen: denn der Gedanke unſrer Seele iſt ungetheilt und jede dieſer Wirkungen iſt eine Frucht der Z

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/199
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 197[177]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/199>, abgerufen am 21.11.2024.