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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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der Gedanken. Es wird daher beinah ungereimt, abstrahir-
te Verhältnisse als einen Körper zergliedern zu wollen und
wie Medea die Glieder ihres Bruders hinwarf, die Seele
aus einander zu werfen. Entgehet uns bei dem gröbsten
Sinn das Material der Empfindung, das vom Nervensaft,
(wenn dieser auch da wäre,) ein so verschiednes Ding ist:
wie viel weniger wird uns die geistige Verbindung aller Sin-
ne und Empfindungen empfindbar werden, daß wir dieselbe
nicht nur sehen und hören, sondern auch in den verschiedenen
Theilen des Gehirns so willkührlich erwecken könnten, als ob
wir ein Clavichord spielten. Der Gedanke, dieses auch nur
zu erwarten, ist mir fremde.

4. Noch fremder wird er mir, wenn ich den Bau des
Gehirns und seiner Nerven betrachte. Wie anders ist hier
die Haushaltung der Natur, als wie sich unsre abstrahirte
Psychologie die Sinne und Kräfte der Seele denket! Wer
würde aus der Metaphysik errathen, daß die Nerven der
Sinne also entstehn, sich also trennen und verbinden? und
doch sind dies die einzigen Gegenden des Gehirns, die wir
in ihren organischen Zwecken kennen, weil uns ihre Wir-
kung vors Auge gelegt ist. Also bleibt uns nichts übrig,
als diese heilige Werkstäte der Jdeen, das innere Gehirn,
wo sich die Sinne einander nähern, als die Gebärmutter an-


zusehen,

der Gedanken. Es wird daher beinah ungereimt, abſtrahir-
te Verhaͤltniſſe als einen Koͤrper zergliedern zu wollen und
wie Medea die Glieder ihres Bruders hinwarf, die Seele
aus einander zu werfen. Entgehet uns bei dem groͤbſten
Sinn das Material der Empfindung, das vom Nervenſaft,
(wenn dieſer auch da waͤre,) ein ſo verſchiednes Ding iſt:
wie viel weniger wird uns die geiſtige Verbindung aller Sin-
ne und Empfindungen empfindbar werden, daß wir dieſelbe
nicht nur ſehen und hoͤren, ſondern auch in den verſchiedenen
Theilen des Gehirns ſo willkuͤhrlich erwecken koͤnnten, als ob
wir ein Clavichord ſpielten. Der Gedanke, dieſes auch nur
zu erwarten, iſt mir fremde.

4. Noch fremder wird er mir, wenn ich den Bau des
Gehirns und ſeiner Nerven betrachte. Wie anders iſt hier
die Haushaltung der Natur, als wie ſich unſre abſtrahirte
Pſychologie die Sinne und Kraͤfte der Seele denket! Wer
wuͤrde aus der Metaphyſik errathen, daß die Nerven der
Sinne alſo entſtehn, ſich alſo trennen und verbinden? und
doch ſind dies die einzigen Gegenden des Gehirns, die wir
in ihren organiſchen Zwecken kennen, weil uns ihre Wir-
kung vors Auge gelegt iſt. Alſo bleibt uns nichts uͤbrig,
als dieſe heilige Werkſtaͤte der Jdeen, das innere Gehirn,
wo ſich die Sinne einander naͤhern, als die Gebaͤrmutter an-


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[198[178]/0200] der Gedanken. Es wird daher beinah ungereimt, abſtrahir- te Verhaͤltniſſe als einen Koͤrper zergliedern zu wollen und wie Medea die Glieder ihres Bruders hinwarf, die Seele aus einander zu werfen. Entgehet uns bei dem groͤbſten Sinn das Material der Empfindung, das vom Nervenſaft, (wenn dieſer auch da waͤre,) ein ſo verſchiednes Ding iſt: wie viel weniger wird uns die geiſtige Verbindung aller Sin- ne und Empfindungen empfindbar werden, daß wir dieſelbe nicht nur ſehen und hoͤren, ſondern auch in den verſchiedenen Theilen des Gehirns ſo willkuͤhrlich erwecken koͤnnten, als ob wir ein Clavichord ſpielten. Der Gedanke, dieſes auch nur zu erwarten, iſt mir fremde. 4. Noch fremder wird er mir, wenn ich den Bau des Gehirns und ſeiner Nerven betrachte. Wie anders iſt hier die Haushaltung der Natur, als wie ſich unſre abſtrahirte Pſychologie die Sinne und Kraͤfte der Seele denket! Wer wuͤrde aus der Metaphyſik errathen, daß die Nerven der Sinne alſo entſtehn, ſich alſo trennen und verbinden? und doch ſind dies die einzigen Gegenden des Gehirns, die wir in ihren organiſchen Zwecken kennen, weil uns ihre Wir- kung vors Auge gelegt iſt. Alſo bleibt uns nichts uͤbrig, als dieſe heilige Werkſtaͤte der Jdeen, das innere Gehirn, wo ſich die Sinne einander naͤhern, als die Gebaͤrmutter an- zuſehen,

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 198[178]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/200>, abgerufen am 21.11.2024.