Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

heit noch animalische Kräfte ausarbeiten und sich mit Sin-
nen und Trieben üben lernen, ehe es zu unsrer, der freiesten
und vollkommensten Stellung gelangen konnte. Allmälich
nahet es sich derselben: der kriechende Wurm erhebt, so viel
er kann, vom Staube sein Haupt und das Seethier schlei-
chet gebückt ans Ufer. Mit hohem Halse stehet der stolze
Hirsch, daß edle Roß da und dem gezähmten Thier werden
schon seine Triebe gedämpft: seine Seele wird mit Vorideen
genährt, die es zwar noch nicht fassen kann, die es aber auf
Glauben annimmt und sich gleichsam blind zu ihnen gewöh-
net. Ein Wink der fortbildenden Natur in ihrem unsicht-
baren organischen Reich; und der thierisch-hinabgezwun-
gene Körper richtet sich auf: der Baum seines Rückens sproßt
gerader und efflorescirt feiner: die Brust hat sich gewölbet,
die Hüften geschloßen, der Hals erhoben, die Sinne sind
schöner geordnet und stralen zusammen ins hellere Bewußt-
seyn, ja zuletzt in Einen Gottesgedanken. Und das alles,
wodurch anders? als vielleicht, wenn die organischen Kräfte
sattsam geübt sind, durch Ein Machtwort der Schöpfung:
Geschöpf, steh auf von der Erde!


III.
B b 2

heit noch animaliſche Kraͤfte ausarbeiten und ſich mit Sin-
nen und Trieben uͤben lernen, ehe es zu unſrer, der freieſten
und vollkommenſten Stellung gelangen konnte. Allmaͤlich
nahet es ſich derſelben: der kriechende Wurm erhebt, ſo viel
er kann, vom Staube ſein Haupt und das Seethier ſchlei-
chet gebuͤckt ans Ufer. Mit hohem Halſe ſtehet der ſtolze
Hirſch, daß edle Roß da und dem gezaͤhmten Thier werden
ſchon ſeine Triebe gedaͤmpft: ſeine Seele wird mit Vorideen
genaͤhrt, die es zwar noch nicht faſſen kann, die es aber auf
Glauben annimmt und ſich gleichſam blind zu ihnen gewoͤh-
net. Ein Wink der fortbildenden Natur in ihrem unſicht-
baren organiſchen Reich; und der thieriſch-hinabgezwun-
gene Koͤrper richtet ſich auf: der Baum ſeines Ruͤckens ſproßt
gerader und effloreſcirt feiner: die Bruſt hat ſich gewoͤlbet,
die Huͤften geſchloßen, der Hals erhoben, die Sinne ſind
ſchoͤner geordnet und ſtralen zuſammen ins hellere Bewußt-
ſeyn, ja zuletzt in Einen Gottesgedanken. Und das alles,
wodurch anders? als vielleicht, wenn die organiſchen Kraͤfte
ſattſam geuͤbt ſind, durch Ein Machtwort der Schoͤpfung:
Geſchoͤpf, ſteh auf von der Erde!


III.
B b 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0217" n="215[195]"/>
heit noch animali&#x017F;che Kra&#x0364;fte ausarbeiten und &#x017F;ich mit Sin-<lb/>
nen und Trieben u&#x0364;ben lernen, ehe es zu un&#x017F;rer, der freie&#x017F;ten<lb/>
und vollkommen&#x017F;ten Stellung gelangen konnte. Allma&#x0364;lich<lb/>
nahet es &#x017F;ich der&#x017F;elben: der kriechende Wurm erhebt, &#x017F;o viel<lb/>
er kann, vom Staube &#x017F;ein Haupt und das Seethier &#x017F;chlei-<lb/>
chet gebu&#x0364;ckt ans Ufer. Mit hohem Hal&#x017F;e &#x017F;tehet der &#x017F;tolze<lb/>
Hir&#x017F;ch, daß edle Roß da und dem geza&#x0364;hmten Thier werden<lb/>
&#x017F;chon &#x017F;eine Triebe geda&#x0364;mpft: &#x017F;eine Seele wird mit Vorideen<lb/>
gena&#x0364;hrt, die es zwar noch nicht fa&#x017F;&#x017F;en kann, die es aber auf<lb/>
Glauben annimmt und &#x017F;ich gleich&#x017F;am blind zu ihnen gewo&#x0364;h-<lb/>
net. Ein Wink der fortbildenden Natur in ihrem un&#x017F;icht-<lb/>
baren organi&#x017F;chen Reich; und der thieri&#x017F;ch-hinabgezwun-<lb/>
gene Ko&#x0364;rper richtet &#x017F;ich auf: der Baum &#x017F;eines Ru&#x0364;ckens &#x017F;proßt<lb/>
gerader und efflore&#x017F;cirt feiner: die Bru&#x017F;t hat &#x017F;ich gewo&#x0364;lbet,<lb/>
die Hu&#x0364;ften ge&#x017F;chloßen, der Hals erhoben, die Sinne &#x017F;ind<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;ner geordnet und &#x017F;tralen zu&#x017F;ammen ins hellere Bewußt-<lb/>
&#x017F;eyn, ja zuletzt in Einen Gottesgedanken. Und das alles,<lb/>
wodurch anders? als vielleicht, wenn die organi&#x017F;chen Kra&#x0364;fte<lb/>
&#x017F;att&#x017F;am geu&#x0364;bt &#x017F;ind, durch Ein Machtwort der Scho&#x0364;pfung:<lb/><hi rendition="#fr">Ge&#x017F;cho&#x0364;pf, &#x017F;teh auf von der Erde</hi>!</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">B b 2</fw>
        <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#aq">III.</hi> </fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[215[195]/0217] heit noch animaliſche Kraͤfte ausarbeiten und ſich mit Sin- nen und Trieben uͤben lernen, ehe es zu unſrer, der freieſten und vollkommenſten Stellung gelangen konnte. Allmaͤlich nahet es ſich derſelben: der kriechende Wurm erhebt, ſo viel er kann, vom Staube ſein Haupt und das Seethier ſchlei- chet gebuͤckt ans Ufer. Mit hohem Halſe ſtehet der ſtolze Hirſch, daß edle Roß da und dem gezaͤhmten Thier werden ſchon ſeine Triebe gedaͤmpft: ſeine Seele wird mit Vorideen genaͤhrt, die es zwar noch nicht faſſen kann, die es aber auf Glauben annimmt und ſich gleichſam blind zu ihnen gewoͤh- net. Ein Wink der fortbildenden Natur in ihrem unſicht- baren organiſchen Reich; und der thieriſch-hinabgezwun- gene Koͤrper richtet ſich auf: der Baum ſeines Ruͤckens ſproßt gerader und effloreſcirt feiner: die Bruſt hat ſich gewoͤlbet, die Huͤften geſchloßen, der Hals erhoben, die Sinne ſind ſchoͤner geordnet und ſtralen zuſammen ins hellere Bewußt- ſeyn, ja zuletzt in Einen Gottesgedanken. Und das alles, wodurch anders? als vielleicht, wenn die organiſchen Kraͤfte ſattſam geuͤbt ſind, durch Ein Machtwort der Schoͤpfung: Geſchoͤpf, ſteh auf von der Erde! III. B b 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/217
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 215[195]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/217>, abgerufen am 21.11.2024.