III. Der Mensch ist zu feinern Sinnen, zur Kunst und zur Sprache organisiret.
Nahe dem Boden hatten alle Sinnen des Menschen nur einen kleinen Umfang und die niedrigen drängeten sich den edlern vor, wie das Beispiel der verwilderten Menschen zei- get. Geruch und Geschmack waren, wie bei dem Thier, ih- re ziehenden Führer. -- -- Ueber die Erde und Kräuter erhoben, herrschet der Geruch nicht mehr, sondern das Auge: es hat ein weiteres Reich um sich und übet sich von Kindheit auf in der feinsten Geometrie der Linien und Farben. Das Ohr, unter den hervortretenden Schädel tief hinunter ge- setzt, gelangt näher zur innern Kammer der Jdeensammlung, da es bei dem Thier lauschend hinauf steht und bei vielen auch seiner äussern Gestalt nach zugespitzt horchet.
Mit dem aufgerichteten Gange wurde der Mensch ein Kunstgeschöpf: denn durch ihn, die erste und schwerste Kunst, die ein Mensch lernet, wird er eingeweihet, alle zu lernen und gleichsam eine lebendige Kunst zu werden. Siehe das Thier!
es
III. Der Menſch iſt zu feinern Sinnen, zur Kunſt und zur Sprache organiſiret.
Nahe dem Boden hatten alle Sinnen des Menſchen nur einen kleinen Umfang und die niedrigen draͤngeten ſich den edlern vor, wie das Beiſpiel der verwilderten Menſchen zei- get. Geruch und Geſchmack waren, wie bei dem Thier, ih- re ziehenden Fuͤhrer. — — Ueber die Erde und Kraͤuter erhoben, herrſchet der Geruch nicht mehr, ſondern das Auge: es hat ein weiteres Reich um ſich und uͤbet ſich von Kindheit auf in der feinſten Geometrie der Linien und Farben. Das Ohr, unter den hervortretenden Schaͤdel tief hinunter ge- ſetzt, gelangt naͤher zur innern Kammer der Jdeenſammlung, da es bei dem Thier lauſchend hinauf ſteht und bei vielen auch ſeiner aͤuſſern Geſtalt nach zugeſpitzt horchet.
Mit dem aufgerichteten Gange wurde der Menſch ein Kunſtgeſchoͤpf: denn durch ihn, die erſte und ſchwerſte Kunſt, die ein Menſch lernet, wird er eingeweihet, alle zu lernen und gleichſam eine lebendige Kunſt zu werden. Siehe das Thier!
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[216[196]/0218]
III.
Der Menſch iſt zu feinern Sinnen, zur Kunſt
und zur Sprache organiſiret.
Nahe dem Boden hatten alle Sinnen des Menſchen nur
einen kleinen Umfang und die niedrigen draͤngeten ſich den
edlern vor, wie das Beiſpiel der verwilderten Menſchen zei-
get. Geruch und Geſchmack waren, wie bei dem Thier, ih-
re ziehenden Fuͤhrer. — — Ueber die Erde und Kraͤuter
erhoben, herrſchet der Geruch nicht mehr, ſondern das Auge:
es hat ein weiteres Reich um ſich und uͤbet ſich von Kindheit
auf in der feinſten Geometrie der Linien und Farben. Das
Ohr, unter den hervortretenden Schaͤdel tief hinunter ge-
ſetzt, gelangt naͤher zur innern Kammer der Jdeenſammlung,
da es bei dem Thier lauſchend hinauf ſteht und bei vielen
auch ſeiner aͤuſſern Geſtalt nach zugeſpitzt horchet.
Mit dem aufgerichteten Gange wurde der Menſch ein
Kunſtgeſchoͤpf: denn durch ihn, die erſte und ſchwerſte Kunſt,
die ein Menſch lernet, wird er eingeweihet, alle zu lernen und
gleichſam eine lebendige Kunſt zu werden. Siehe das Thier!
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 216[196]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/218>, abgerufen am 21.11.2024.
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