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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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ärgsten Feinden, er deckt Häuser ab und kann Menschen
morden. Das wilde Mägdchen zu Songi schlug ihre Mit-
schwester mit der Keule vor den Kopf und ersetzte mit Klet-
tern und Laufen, was ihr an Stärke abgieng. Also auch
der verwilderte Mensch ist, seiner Organisation nach, nicht
ohne Vertheidigung; und aufgerichtet, cultivirt -- welch
Thier hat das vielarmige Werkzeug der Kunst, was er in sei-
nem Arm, in seiner Hand, in der Geschlankigkeit seines Lei-
bes, in allen seinen Kräften besitzet? Kunst ist das stärkste
Gewehr und er ist ganz Kunst, ganz und gar organisirte
Waffe. Nur zum Angrif fehlen ihm Klauen und Zähne;
denn er sollte ein friedliches sanftmüthiges Geschöpf seyn;
zum Menschenfressen ist er nicht gebildet.

Welche Tiefen von Kunstgefühl liegen in einem jeden
Menschensinn verborgen, die hie und da meistens nur Noth,
Mangel, Krankheit, das Fehlen eines andern Sinnes, Miß-
geburt oder ein Zufall entdecket und die uns ahnen lassen,
was für andre für diese Welt unaufgeschlossene Sinne in uns
liegen mögen. Wenn einige Blinde das Gefühl, das Ge-
hör, die zählende Vernunft, das Gedächtniß bis zu einem
Grad erheben konnten, der Menschen von gewöhnlichen Sin-
nen fabelhaft dünket: so mögen unentdeckte Welten der Man-
nichfaltigkeit und Feinheit auch in andern Sinnen ruhen, die


wir

aͤrgſten Feinden, er deckt Haͤuſer ab und kann Menſchen
morden. Das wilde Maͤgdchen zu Songi ſchlug ihre Mit-
ſchweſter mit der Keule vor den Kopf und erſetzte mit Klet-
tern und Laufen, was ihr an Staͤrke abgieng. Alſo auch
der verwilderte Menſch iſt, ſeiner Organiſation nach, nicht
ohne Vertheidigung; und aufgerichtet, cultivirt — welch
Thier hat das vielarmige Werkzeug der Kunſt, was er in ſei-
nem Arm, in ſeiner Hand, in der Geſchlankigkeit ſeines Lei-
bes, in allen ſeinen Kraͤften beſitzet? Kunſt iſt das ſtaͤrkſte
Gewehr und er iſt ganz Kunſt, ganz und gar organiſirte
Waffe. Nur zum Angrif fehlen ihm Klauen und Zaͤhne;
denn er ſollte ein friedliches ſanftmuͤthiges Geſchoͤpf ſeyn;
zum Menſchenfreſſen iſt er nicht gebildet.

Welche Tiefen von Kunſtgefuͤhl liegen in einem jeden
Menſchenſinn verborgen, die hie und da meiſtens nur Noth,
Mangel, Krankheit, das Fehlen eines andern Sinnes, Miß-
geburt oder ein Zufall entdecket und die uns ahnen laſſen,
was fuͤr andre fuͤr dieſe Welt unaufgeſchloſſene Sinne in uns
liegen moͤgen. Wenn einige Blinde das Gefuͤhl, das Ge-
hoͤr, die zaͤhlende Vernunft, das Gedaͤchtniß bis zu einem
Grad erheben konnten, der Menſchen von gewoͤhnlichen Sin-
nen fabelhaft duͤnket: ſo moͤgen unentdeckte Welten der Man-
nichfaltigkeit und Feinheit auch in andern Sinnen ruhen, die


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[218[198]/0220] aͤrgſten Feinden, er deckt Haͤuſer ab und kann Menſchen morden. Das wilde Maͤgdchen zu Songi ſchlug ihre Mit- ſchweſter mit der Keule vor den Kopf und erſetzte mit Klet- tern und Laufen, was ihr an Staͤrke abgieng. Alſo auch der verwilderte Menſch iſt, ſeiner Organiſation nach, nicht ohne Vertheidigung; und aufgerichtet, cultivirt — welch Thier hat das vielarmige Werkzeug der Kunſt, was er in ſei- nem Arm, in ſeiner Hand, in der Geſchlankigkeit ſeines Lei- bes, in allen ſeinen Kraͤften beſitzet? Kunſt iſt das ſtaͤrkſte Gewehr und er iſt ganz Kunſt, ganz und gar organiſirte Waffe. Nur zum Angrif fehlen ihm Klauen und Zaͤhne; denn er ſollte ein friedliches ſanftmuͤthiges Geſchoͤpf ſeyn; zum Menſchenfreſſen iſt er nicht gebildet. Welche Tiefen von Kunſtgefuͤhl liegen in einem jeden Menſchenſinn verborgen, die hie und da meiſtens nur Noth, Mangel, Krankheit, das Fehlen eines andern Sinnes, Miß- geburt oder ein Zufall entdecket und die uns ahnen laſſen, was fuͤr andre fuͤr dieſe Welt unaufgeſchloſſene Sinne in uns liegen moͤgen. Wenn einige Blinde das Gefuͤhl, das Ge- hoͤr, die zaͤhlende Vernunft, das Gedaͤchtniß bis zu einem Grad erheben konnten, der Menſchen von gewoͤhnlichen Sin- nen fabelhaft duͤnket: ſo moͤgen unentdeckte Welten der Man- nichfaltigkeit und Feinheit auch in andern Sinnen ruhen, die wir

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 218[198]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/220>, abgerufen am 24.11.2024.